1. Betriebsgefahr (§ 7 StVG)
Bei einem berührungslosen Unfall ist Voraussetzung für die Zurechnung des Betriebs eines Kfz zu einem schädigenden Ereignis, dass es über seine bloße Anwesenheit an der Unfallstelle hinaus durch seine Fahrweise oder sonstige Verkehrsbeeinflussung zu der Entstehung des Schadens beigetragen hat. Dies ist für ein vorausfahrendes Kfz bei einem Spurwechsel in eine Linksabbiegerspur nicht der Fall, wenn rückwärtiger Verkehr die Linksabbiegerspur seinerseits zum Abbiegen nutzt und dabei verkehrsbedingt aufgrund einer unstreitig auf Rotlicht springenden Ampel übermäßig stark bremsen muss, solange sich das vorausfahrende nur bei Gelegenheit zwischen der auf Rotlicht springenden Ampel und dem rückwärtigen Fahrzeug befand (OLG Hamm NZV 2022, 576 [Kleine-König]). Stürzt ein Fahrradfahrer beim Absteigen angesichts beengter Straßenverhältnisse, um ein überholendes Rettungsfahrzeug vorbeizulassen, so ist eine dabei entstandene Verletzung „beim Betrieb eines Fahrzeugs” i.S.d. § 7 StVG erfolgt. Dies gilt auch wenn es zu keiner Berührung gekommen ist (OLG Oldenburg NJW 2023, 2323 m. Anm. Pletter = DAR 2023, 40). Werden beim Erntevorgang von Weintrauben mittels eines selbstfahrenden Traubenvollernters die geernteten Weintrauben durch Hydrauliköl aus einem geplatzten Schlauch verschmutzt, ist der Schaden „bei dem Betrieb” als Kfz entstanden, wenn eine „fahrbare Arbeitsmaschine” gerade während der Fahrt bestimmungsgemäß Arbeiten verrichtet (OLG Koblenz zfs 2022, 510 = VRR 11/2022, 13 [Nugel]). Es ist der Betriebsgefahr eines Fahrzeugs zuzurechnen, wenn ein von einem Fahrzeug überrollter, aber dennoch überlebender Hund in engem zeitlich-örtlichem Zusammenhang danach seinen Halter beißt (OLG Celle zfs 2023, 130). Werden aus einem geparkten Fahrzeug Gegenstände auf die Fahrbahn gelegt mit der Absicht, ein Hindernis für andere Verkehrsteilnehmer zu errichten, sind hieraus resultierende Schäden weder „bei dem Betrieb” noch „durch den Gebrauch” des Kfz entstanden. Dies gilt auch dann, wenn es sich hierbei um Gegenstände handelt, deren Mitführung in dem Fahrzeug gesetzlich vorgeschrieben sind (LG Rottweil NJW-RR 2022, 1479 = VRR 11/2022, 14 [Nugel].
2. Verstöße, Haftungsverteilung und Mitverschulden (§§ 9, 17 StVG, 254 BGB)
a) Kollisionen von Kfz
aa) Verstöße
Wer ordnungsgemäß zum Überholen einer Kolonne angesetzt hat, hat gegenüber ausscherenden Fahrzeugen aus der Kolonne Vorrang, auch wenn im weiteren Verlauf die Absicht, links abzubiegen, erkennbar wird. Das Überholen einer großen Kolonne von neun bis zehn Fahrzeugen, ohne dass eine unklare Verkehrslage vorliegt, ist grds. erlaubt und führt nicht zu einem Mitverschulden. Gegebenenfalls kommt jedoch eine erhöhte Betriebsgefahr zum Ansatz (OLG Celle NJW 2022, 3086 = zfs 2022, 442 = NZV 2023m 46 [Bachmor]).
Hinweis:
Zum Überholen durch Kfz im Stadtverkehr Hilpert-Janßen, NZV 2022, 457.
Der gegen den Auffahrenden grds. sprechende Anscheinsbeweis ist entkräftet, wenn der Vorausfahrende im unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfall vorher den Fahrstreifen gewechselt hat. Der zeitliche Zusammenhang zwischen dem Spurwechsel und dem Auffahren ist selbst dann noch nicht unterbrochen, wenn sich vorausfahrende Fahrstreifenwechsler zum Zeitpunkt der Kollision etwa fünf Sekunden auf dem Fahrstreifen des Auffahrenden befunden haben (OLG Schleswig NJW 2023, 370). Bei einem Kettenauffahrunfall greift ein Anscheinsbeweis nur dann, wenn feststeht, dass das vorausfahrende Fahrzeug rechtzeitig hinter seinem Vordermann zum Stehen gekommen ist. Beim Letztauffahrenden kann ein Anscheinsbeweis bejaht werden, wenn es sich um einen „herkömmlichen” Auffahrunfall handelt und ausgeschlossen ist, dass er seinerseits auf die vorausfahrenden Fahrzeuge aufgeschoben worden ist (LG Osnabrück zfs 2022, 316 = NZV 2022, 534 [Bachmor]).
Hinweis:
Auffahren, Spurwechsel und die Typizität beim Anscheinsbeweis beschreibt Neumann, NJW 2023, 332.
Behindert oder gefährdet ein linksabbiegender Fahrer an einer Kreuzung den ihm entgegenkommenden, rechtsabbiegenden Fahrzeugführer, so liegt eine Vorfahrtverletzung gem. § 9 Abs. 4 S. 1 StVO vor und kein Spurwechsel i.S.d. § 7 Abs. 5 StVO, selbst wenn die Straße, in die abgebogen werden soll, zweispurig ist, da durch den bevorrechtigten Rechtsabbieger lediglich ein Überfahren von Leitlinien bei der Ausübung des Vorfahrtrechtes erfolgt (AG Brandenburg NZV 2022, 536 [Lempp]; zum Spurwechsel auf der Vorfahrtstraße eingehend Siegel, DAR 2022, 677). Derjenige, dem ein grüner Pfeil das Linksabbiegen gestattet, darf darauf vertrauen, dass Gegenverkehr durch Rotlicht gesperrt ist und Fahrzeuge aus der Gegenrichtung das für sie geltende Haltegebot beachten. Dieser Vertrauensgrundsatz wird nicht dadurch beseitigt, dass nach Passieren der Ampel für den Linksabbieger die Anlage ausfällt. Ein Idealfahrer hätte aus dem mit dem Ampelausfall einhergehenden Ausfall des Ampellichts der Fußgängerampel, der für die Linksabbieger erkennbar war, geschlossen, dass es eine Fehlfunktion der Ampelschaltung gibt. Ein unabwendbares Ereignis liegt deshalb nicht vor (OLG Schleswig zfs 2023, 14 = VRR 12/202...