§ 62 SGG – die anderen Verfahrensordnungen enthalten keine entsprechende Vorschrift – wiederholt den schon in Art. 103 Abs. 1 GG normierten Grundsatz des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Dieser Anspruch führt als Ausdruck der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) zu strengen Anforderungen an die gerichtliche Verfahrensführung. Diese soll garantieren, dass die Verfahrensbeteiligten vor Gericht zu Wort kommen, ihr Vorbringen berücksichtigt wird und kein Überraschungsurteil ergeht.

 

Hinweis:

Nicht jede Gehörsverletzung nach § 62 SGG ist gleichzeitig ein Verfassungsverstoß nach Art. 103 Abs. 1 GG. Die Grenze zur Verfassungswidrigkeit ist erst überschritten, wenn die fehlerhafte Auslegung/Anwendung des einfachen Rechts in einer nicht mehr verständlichen und offensichtlich unhaltbaren Weise erfolgt (BVerfG 1.7.2021 – 2 BvR 890/20, NJW 2021, 2955).

Der EGMR leitet das Recht auf Gehör aus dem Gebot fairen Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 EMRK) her (s. MKS/Keller, SGG, vor § 60 Rn 2b). Ein Anspruch hierauf wird in Deutschland als grundrechtsgleiches Recht angesehen, hergeleitet aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG (s. zuletzt BVerfG 7.2.2024 – 2 BvR 2103/20).

Eine für die Anwaltschaft oft relevante Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ergibt sich im Zusammenhang mit Terminverlegungsanträgen (s. hierzu MKS/Keller, SGG, § 62, Rn 6d u. 6e m.w.N.), seien es solche von Bevollmächtigten oder von Parteien.

Im Rahmen des hier darzustellenden Verfahrens hatte das LSG am Termintag um 15:30 Uhr die mündliche Verhandlung anberaumt. Dem Kläger, der bereits zweimal zuvor wegen einer psychiatrischen Grunderkrankung eine Terminverlegung bewirkt hatte, beantragte am Sitzungstag die Verlegung des Termins, weil sich sein Gesundheitszustand so sehr verschlechtert habe, dass es ihm noch nicht möglich sei, ein Attest einzureichen, was er aber nachholen werde. Über diesen Antrag hat die Berichterstatterin als Vorsitzende vor Beginn der mündlichen Verhandlung keinen Beschluss gefasst. Gegen das zuungunsten des Klägers erlassene Urteil wandte sich dieser erfolgreich mit der auf einen Verfahrensmangel (§ 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG) gestützten Nichtzulassungsbeschwerde, die nach § 160a Abs. 5 SGG zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückweisung der Sache an das LSG führte (BSG 8.3.2023 – B 7 AS 107/22 B, NJW 2024, 383 mit Anm. Müller, NZS 2024, 24).

Das BSG lässt offen, ob dem Verlegungsantrag hätte stattgegeben werden müssen. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs in einer mündlichen Verhandlung umfasst dann das Recht auf Aufhebung oder Verlegung eines anberaumten Termins, wenn dies aus erheblichen Gründen geboten ist, § 202 S. 1 SGG i.V.m. § 227 Abs. 1 ZPO, was std. Rspr. entspricht (s. etwa BSG 12.9.2019 – B 9 V 53/18 B, Rn 14).

Von der Frage, ob dem Antrag stattgegeben werden muss, ist zu unterscheiden die Verpflichtung des Vorsitzenden (§ 202 S. 1 SGG i.V.m. § 227 Abs. 4 S. 1 ZPO), einen Antrag auf Terminsaufhebung bzw. -verlegung vor Eröffnung der mündlichen Verhandlung förmlich kurz zu bescheiden, soweit dies technisch noch durchführbar und zeitlich zumutbar ist. Der Schwerpunkt liegt hier auf dem Recht des Beteiligten auf Information über das Schicksal des Verlegungsantrags. Infolge dieser Information kann sich der Beteiligte darauf einrichten, dass eine Entscheidung des Gerichts aufgrund der angesetzten mündlichen Verhandlung möglich ist. Die – kurz begründete – Entscheidung über den Verlegungsantrag kann formlos mitgeteilt werden, § 202 S. 1 SGG i.V.m. § 227 Abs. 4 S. 2 ZPO. Das BSG nimmt an, der zeitliche Rahmen von mehr als zwei Stunden hätte es der Berichterstatterin als Vorsitzende gestattet, vor dem Termin über den Antrag zu entscheiden (zur Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch unberechtigte Ablehnung eines Terminverlegungsantrags s. BVerfG 10.6.2021 – 1 BvR 1997/18, NJW 2021,3384; hierzu Keller, juris PR-SozR 23/2021, Anm. 3; die Verfasser, ZAP F. 18. 1881 f.).

ZAP F., S. 367–386

Von Rechtsanwalt Dr. Ulrich Sartorius, Fachanwalt für Sozialrecht und für Arbeitsrecht, Breisach und Prof. i.R. Dr. Jürgen Winkler, Konstanz

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