Zusammenfassung
Nichtamtlicher Leitsatz:
Ein großes Ausmaß i.S.d. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO beginnt einheitlich ab einem Hinterziehungsbetrag von 50.000 EUR.
BGH, Urt. v. 27.10.2015 – 1 StR 373/15, ZAP EN-Nr. 350/2016
Bearbeiter: Rechtsanwalt Mark T. Singer, Neuss
I. Vorbemerkung
Einmal mehr hat der 1. Strafsenat des BGH im Steuerstrafrecht einen Richtungswechsel in Richtung Strafverschärfung vollzogen, in dem er die seit seiner Grundsatzentscheidung vom 2.12.2008 (1 StR 416/08, BGHSt 53, 71) wiederholt propagierte flexible Bestimmung der Wertgrenze für die Verkürzung hoher Beträge im Sinne eines "großen Ausmaßes" nach § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO nunmehr generell bei 50.000 EUR ziehen will, was zwar einerseits aus Sicht der Praxis zu begrüßen ist, weil damit zugleich eine Übereinstimmung zu den anderen starren Wertgrenzen etwa des (Subventions-)Betrugs (§ 264 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 bzw. § 263 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 Alt. 1 StGB) oder der Bestechung/Bestechlichkeit (§ 335 Abs. 2 Nr. 1, § 300 S. 2 Nr. 1 StGB) hergestellt wird, wo das wortgleiche Merkmal des "großen Ausmaßes" mit ebensolcher objektiver Betragshöhe angesetzt wird (vgl. Urt. v. 7.10.2003 – 1 StR 274/03, BGHSt 48, 360; Urt. v. 23.11.2015 – 5 Str 352/15, ZAP EN-Nr. 209/2016), andererseits hat der Senat diesen Kurswechsel aber nicht – wie sonst üblich etwa per obiter dictum – rechtzeitig angekündigt, so dass nunmehr fraglich bleibt, ob die von dieser Rechtsprechungsänderung Betroffenen einen entsprechenden Vertrauensschutz für sich in Anspruch nehmen können, was mit Blick auf die (von fünf auf dann zehn Jahre) verlängerten Strafverfolgungsverjährung (§ 376 Abs. 1 AO) insbesondere für diejenigen von Interesse ist, die in der Vergangenheit eine (strafbefreiende/zuschlagfreie) Selbstanzeige abgegeben haben, für die eine vollständige Berichtigung bzgl. sämtlicher nicht verjährter Ansprüche einer Steuerart verlangt wird (§ 371 Abs. 1 S. 2 AO) und der jetzt mangels Vollständigkeit rückwirkend wieder der Boden entzogen sein könnte – ein Szenario, das angesichts der allein 2014 bundesweit erfolgten 40.000 Selbstanzeigen (FAZ online v. 9.3.2015, www.faz.net) wohl nicht ohne praktische Brisanz sein dürfte.
II. Sachverhalt
Nach dem (hier: stark verkürzt wiedergegebenen) Sachverhalt hatte der Angeklagte, der als Einzelkaufmann eine Pizzeria betrieb, die betrieblichen Umsätze und Gewinne für 2006 und 2007 zu niedrig erklärt und dadurch – soweit hier von Interesse – im Jahre 2007 allein die Umsatzsteuer um 53.830 EUR verkürzt. Die Strafkammer, die auf Strafzumessungsebene hiervon noch Vorsteuern i.H.v. 8.578 EUR absetzte und so zu einem Umsatzsteuerschaden von insgesamt 45.252 EUR gelangte, sah das Merkmal des "großen Ausmaßes" i.S.d. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO als erfüllt an und wies dafür eine Freiheitsstrafe von 14 Monaten als Einsatzstrafe aus.
3 Entscheidung
Der BGH hielt die hiergegen erhobene Revision insgesamt für unbegründet. Insbesondere sei die Grenze zur Hinterziehung "in großem Ausmaß" zu Recht bereits dann überschritten, wenn dem Finanzamt steuerlich erhebliche Tatsachen verschwiegen und dadurch der Steueranspruch in einer Höhe von mehr als 50.000 EUR gefährdet wird. Soweit für diesen Fall der Nichtdeklaration von (sämtlichen) Einnahmen bzw. der Nichtabgabe der Steuererklärung nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO (dazu: Roth ZAP F. 21, S. 279 ff.) die Wertgrenze bislang erst bei 100.000 EUR gezogen worden ist, während in den Fällen, in denen der Täter ungerechtfertigte Zahlungen vom Finanzamt erlangt hatte, also etwa mittels Scheinrechnungen zu Vorsteuern oder Betriebsausgaben "unmittelbar in die Kasse des Fiskus gegriffen hat" (so plastisch: BGH, Beschl. v. 15.12.2011 – 1 Str 579/11, NJW 2012, 1015), die Schwelle zum besonders schweren Fall der Steuerhinterziehung bereits ab einem Verkürzungsbetrag von 50.000 EUR überschritten sein sollte (vgl. BGH, Urt. v. 2.12.2008, a.a.O.; Beschl. v. 5.5.2011 – 1 StR 116/11, NJW 2011, 2450), hält der Senat diese Differenzierung für nicht mehr gerechtfertigt, weil sich beide Fallgestaltungen qualitativ nicht wesentlich voneinander unterscheiden. Denn auch wenn bei Herbeiführung ungerechtfertigter Erstattungen ein tatsächlicher Schaden beim Fiskus eingetreten sei, sei ein solcher doch auch beim Verschweigen von Umsätzen/Gewinnen typischerweise zu erwarten. Von daher liege es auch nahe, die Gefährdung des Steueranspruchs (jetzt) mit dem Eintritt des Vermögensschadens gleichzusetzen, wodurch sich der Tatbestand Steuerhinterziehung vom Betrug letztlich auch "strukturell" unterscheide.
Mit der neuen einheitlichen Wertgrenze von 50.000 EUR – ihre Verdoppelung wäre nach Ansicht des BGH dagegen sachlich nicht begründbar – und dem damit verbundenen Entfallen der bisherigen Differenzierung zwischen nicht deklarierten Steuererhöhungsbeträgen einerseits und zu Unrecht geltend gemachten Steuerminderungsbeträge andererseits, nebst der damit jeweils korrespondierenden Abwägung der spezifischen Elemente des Erfolgs- oder des Handlungsunrechts, sei das Merkmal des "großen Ausmaßes" jetzt nach Lesart des BGH einheitli...