aa) Bindung an strafgerichtliche Entscheidungen
Die Fahrerlaubnisbehörde ist an die strafrichterliche Eignungsbeurteilung nur dann gebunden, wenn diese auf ausdrücklich in den schriftlichen Urteilsgründen getroffenen Feststellungen beruht und wenn sie von demselben und nicht von einem anderen, umfassenderen Sachverhalt als der Strafrichter auszugehen hat. Kommt es für eine Bindungswirkung nach § 3 Abs. 4 S. 1 StVG gem. § 267 Abs. 6 S. 2 StPO maßgeblich auf die Feststellungen im Urteil zur Fahreignung an, ist der Inhalt der Sitzungsniederschrift des Strafverfahrens sowie von etwaigen Absprachen zwischen dem Strafverteidiger und dem Richter in der Sitzungspause des Strafverfahrens zur Erwirkung eines Geständnisses nicht von Belang (OVG Bautzen DAR 2017, 650). Eine stattgebende Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung einer Fahrerlaubnis kommt nicht in Betracht, solange ein gegen den Antragsteller eingeleitetes Strafverfahren wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis nicht abgeschlossen ist (VGH München zfs 2017, 655 = NZV 2017, 590 [Koehl]).
Hinweis:
Zum Verfahren nach § 123 VwGO in straßenverkehrsrechtlichen Angelegenheiten insbesondere bei Führerscheinsachen s. Weber (DAR 2018, 172).
bb) Punktesystem
§ 4 Abs. 5 S. 6 StVG betrifft ausdrücklich die Berechnung des Punktestands und stellt nur die Berechnungsgrundlage für die weiteren Entscheidungen der Fahrerlaubnisbehörde dar. Von der Bonusregelung, die im Hinblick auf § 4 Abs. 5 S. 2 StVG in der bis zum 30.4.2014 geltenden Fassung im Zusammenhang mit dem Tattagprinzip entwickelt worden ist, hat der Gesetzgeber erst anlässlich der Neuregelung von § 4 Abs. 5 S. 6 und § 4 Abs. 6 S. 4, 5 StVG durch die am 5.12.2014 in Kraft getretene Änderung des StVG Abstand genommen und in Bezug auf eine Verringerung von Punkten wegen unterbliebener Maßnahmen nach dem Fahreignungssystem einen Systemwechsel vollzogen. Die Bonusregelung des § 4 Abs. 6 S. 3 StVG in der zwischen dem 1.5.2014 und dem 4.12.2014 geltenden Fassung findet in den Fällen Anwendung, in denen Punkte unter der in diesem Zeitraum geltenden Rechtslage entstanden sind, und zwar auch dann, wenn die Entziehung der Fahrerlaubnis erst unter Geltung des StVG in der ab dem 5.12.2014 anwendbaren Fassung erfolgt ist (OVG Münster NJW 2018, 643 = NZV 2018, 151 [Gail]).
Nach Löschung einer Eintragung im Fahrerlaubnisregister ist eine Verwertung der Tat und der Entscheidung auch im Rahmen des Fahreignungs-Bewertungssystems nicht mehr zulässig (§ 29 Abs. 7 S. 1 StVG; VGH München zfs 2017, 716 = NZV 2018, 47 [Hühnermann]; VGH München NJW 2018, 883; a.A: VG München NZV 2018, 95 [Koehl]).
cc) Gutachtenanordnung
Für die Beantwortung der Frage, ob einer oder mehrere Verstöße gegen verkehrsrechtliche Vorschriften i.S.d. § 11 Abs. 3 S 1 Nr. 4 FeV vorliegen, kommt es nicht auf den prozessualen, sondern den materiell-rechtlichen Tatbegriff an (OVG Lüneburg zfs 2018, 56). Anlassbezogen und verhältnismäßig müssen auch solche Fragestellungen sein, die die Fahrerlaubnisbehörde im Fahrerlaubnisentziehungsverfahren lediglich zur Vorbereitung etwa nachfolgender Anordnungen nach § 46 Abs. 3 i.V.m. § 11 FeV an behandelnde Ärzte des Betroffenen richtet (OVG Lüneburg zfs 2017, 719).
Weitere Fälle aus der Rechtsprechung:
- Der Widerruf der Fahrerlaubnis nach § 6e Abs. 2 S. 1 StVG (Führen von Kfz in Begleitung ab 17 Jahren) wird nicht durch die Vollendung des 18. Lebensjahres des Fahranfängers ausgeschlossen. Der in dem unbegleiteten Fahren liegende Verstoß gegen § 6e Abs. 1 Nr. 2 StVG rechtfertigt regelmäßig die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Widerrufsbescheids (OVG Lüneburg NJW 2017, 3612 = zfs 2017, 599 = NZV 2017, 541 [Koehl]).
- Das der Straßenverkehrsbehörde durch § 46 Abs. 1 S. 1 Nr. 5b Alt. 2 StVO hinsichtlich Befreiungen von der Schutzhelmpflicht des § 21a Abs. 2 S. 1 StVO eingeräumte Ermessen ist nicht bereits deswegen auf Null reduziert, weil einem Kraftradfahrer das Tragen eines Schutzhelms wegen der religiösen Pflicht zum Tragen eines Turbans nicht möglich ist (VGH Mannheim VRS 132, 41 = NZV 2017, 496 [Ternig]).
Hinweis:
Überblicke über die aktuelle Rechtsprechung zum Fahrerlaubnisrecht bei Koehl (NZV 2017, 459; zfs 2017, 604 [Verkehrsverwaltungsrecht]). Eine Rechtsprechungsübersicht Verkehrsverwaltungsrecht im Jahr 2017 findet sich bei Kalus (DAR 2017, 166).