1. Sanktionsregelungen des SGB II teilweise verfassungswidrig
Das BVerfG hat durch Urt. v. 5.11.2019 – 1 BvL 7/16 die Vorschrift des § 31a SGB II für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt, soweit die Sanktion im Wiederholungsfalle zu einer Minderung der Leistung von mehr als 30 % des maßgebenden Regelbedarfs oder zum völligen Wegfall der Leistung führt. Außerdem hat es mit dem Grundgesetz für nicht vereinbar erklärt, dass die Leistung auch in Fällen einer außergewöhnlichen Härte zwingend gemindert werden muss sowie dass die Dauer der Leistungsminderung starr auf drei Monate festgesetzt wird (zu den Einzelheiten s. die Urteilsbesprechung von Sartorius, ZAP F. 18, S. 1699 ff.).
2. Zugang eines Antrags auf Arbeitslosengeld II außerhalb der Dienstzeiten
Die Leistungen nach dem SGB II müssen beantragt werden, § 37 Abs. 1 S. 1 SGB II. Dieser Antrag ist u.a. für den Beginn des Anspruchs auf Arbeitslosengeld II von Bedeutung, weil er – nur – auf den ersten des Monats der Antragstellung zurückwirkt, § 37 Abs. 2 S. 1 SGB II. Im Monatswechsel kommt damit dem Zugang des Antrags maßgebende Bedeutung zu. Eine bestimmte Form für den Antrag wird im SGB II nicht vorgeschrieben. Das BSG hatte zu entscheiden, ob ein nach Dienstschluss des letzten dienstoffenen Tags eines Kalendermonats per E-Mail eingegangener Antrag noch für diesen oder erst ab dem Folgemonat wirkt.
Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde. Der keine Leistungen nach dem SGB II beziehende Kläger beantragte, weil ihm entgegen der arbeitsvertraglichen Vereinbarung das Arbeitsentgelt für Januar 2015 nicht zum Monatsende, sondern erst im Februar 2015 ausgezahlt wurde, am Abend des Freitags, dem 30.1.2015 kurz nach 20 Uhr durch eine E-Mail an das beklagte Jobcenter Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts seiner Bedarfsgemeinschaft. Da das beklagte Jobcenter auf diese E-Mail nicht reagierte, erinnerte er am 4.3.2015 durch E-Mail an seine E-Mail vom Januar 2015. Hierauf wurden ihm und den Mitgliedern seiner Bedarfsgemeinschaft durch Bescheid vom 16.6.2015 auf den "Antrag vom 4.3.2015" für die Monate März bis August 2015 Leistungen nach dem SGB II bewilligt. Seine Klage auf Leistungen für Januar 2015 war vor dem Sozialgericht teilweise, vor dem LSG in vollem Umfang erfolgreich. Das BSG wies in seinem Urt. v. 11.7.2019 – B 14 AS 51/18 R die Revision des Beklagten zurück (s. hierzu Hengelhaupt, jurisPR-SozR 24/2019 Anm. 1).
Das BSG geht wie die allgemeine Meinung in der Literatur (vgl. etwa Burkizcak in BeckOK-SozR, § 37 SGB II Rn 8; zu weiteren Nachweisen s. die Urt.-Begründung Rn 16) von der Wirksamkeit einer Antragstellung durch E-Mail aus. Da § 37 SGB II keine bestimmte Form für die Antragstellung vorschreibe, gelte der allgemeine Grundsatz der Nichtförmlichkeit.
Hinweis:
Dieser in § 9 SGB X geregelte Grundsatz besagt, dass das Verwaltungsverfahren nicht an bestimmte Formen gebunden ist. Er ist anzuwenden, soweit im SGB II keine abweichende Regelung getroffen wurde, § 37 S. 1 SGB I.
Voraussetzung für den Antrag durch E-Mail ist allerdings nach der Urteilsbegründung, dass das Jobcenter die Kommunikation durch E-Mail eröffnet hat und die Antragstellung hiervon nicht ausgenommen ist.
Der Zugang der E-Mail ist nach den Ausführungen des BSG erfolgt, wenn sie in der Mailbox des Empfängers oder des Providers eingegangen ist. Das LSG durfte hiervon im konkreten Fall ausgehen, nachdem es geprüft hatte, dass der Kläger die korrekte E-Mail-Adresse verwendet hatte. Dies begründet das BSG wie folgt: Dass der Beklagte den Nachweis dadurch vereitelt hat, dass die routinemäßige Löschung der E-Mail nach sechs Monaten nicht verhindert wurde, obwohl er vom Kläger an die Bearbeitung des Leistungsantrags erinnert worden war, sei pflichtwidrig gewesen.
Für das Wirksamwerden ist nach den Ausführungen des BSG nicht erforderlich, dass die E-Mail während der üblichen Dienstzeiten eingeht. Die für den Zugang amtsempfangsbedürftiger Willenserklärungen in § 130 Abs. 3 BGB i.V.m. § 130 Abs. 1 BGB vorgesehenen Regelungen müssen nach den Ausführungen des BSG modifiziert werden.
Hinweis:
Nach § 130 Abs. 3 BGB i.V.m. § 130 Abs. 1 BGB ist eine nach Ende der Dienstzeit bei einer Behörde eingegangene amtsempfangsbedürftige Willenserklärung erst am nächsten Tag der Dienstbereitschaft wirksam.
Dies begründete das BSG damit, dass der Antrag im SGB II neben der verfahrensrechtlichen konstitutive Bedeutung hat. Nach der Gesetzesbegründung (BT-Drucks 17/3404, S. 114) diene die Regelung v.a. dazu, Einkommen von Vermögen abzugrenzen. Der Gesetzgeber harmonisiere hiermit die Rechtsgestaltungswirkung des Antrags mit dem Monatsprinzip des SGB II und entziehe diese Wirkung des Antrags der Disposition der leistungsberechtigten Person. Diese Wirkung könne nicht durch eine nachträgliche Rücknahme des Leistungsantrags beseitigt werden (BSG, Urt. v. 24.4.2015 – B 4 AS 22/14 R, SozR 4-4200 § 11 Nr. Rn 21 ff.; hierzu Sartorius/Pattar, ZAP F. 18, S. 1430). Dies schließe es aus, die Wirkung eines Antrags von den Öffnungszeiten des Jobcenters abhängig zu machen. Entscheidend sei, dass der Antrag im betreffenden Monat in den Macht- oder Willensbe...