Dass die Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs im Vergleich zu analog-orientierten Workflows die Komplexität erhöht hat, erfährt die Anwaltschaft gegenwärtig allerorten. Jede Erhöhung der Komplexität steigert notwendigerweise auch die Gefahr von Fehlern. Dies gehört mittlerweile gleichfalls zur anwaltlichen Erfahrung. Eine jetzt schon reichhaltige Judikatur spiegelt dieses Gefahrenpotenzial wider. Es ist von daher verständlich, dass Anwältinnen und Anwälte sich manchmal bei der Bewältigung der Herausforderungen des elektronischen Rechtsverkehrs als überfordert empfinden, zumal Fehlvorstellungen über die Parameter des elektronischen Rechtsverkehrs von der Rechtsprechung durchgehend als verschuldet eingestuft werden. Vor diesem Hintergrund gilt es die Frage zu stellen, ob und inwieweit die richterliche Fürsorgepflicht inâEUR™einer auf die neuen elektronischen Workflows bezogenen Form hilfreiche Chancen eröffnen und Unterstützung bieten kann.
Dass eine Fürsorgepflicht des Gerichts im Verfahren besteht, und dies selbst dann, wenn es um Fehler beim anwaltlichen Handeln geht, ist allgemein anerkannt. Diese Pflicht ist eine Folge des grundrechtsgleichen Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 2 I GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip). Die Fürsorgepflicht findet ihre Grenze dort, wo es darum geht, die Justiz zur Sicherung ihrer Funktionsfähigkeit vor einer übermäßigen Belastung zu schützen. Es gilt also, zwei Prinzipien so auszutarieren, dass keines davon mehr als in dieser Spannungslage notwendig eingeschränkt wird.
Zur Konkretisierung dieser abstrakten Notwendigkeit wurden in der Vergangenheit Fallgruppen gebildet. Deren Fortschreibung ist nun unter den Bedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs eine zentrale Aufgabe. Exemplarisch lässt sich diese Aufgabe an Hand einer Fallgruppe analysieren, die sich mit Formfehlern befasst. Anerkannt war, dass das Gericht aufgrund seiner Fürsorgepflicht einen Prozessbevollmächtigten auf einen – leicht erkennbaren – Formmangel in seinem Schriftsatz hinweisen muss, damit dieser Gelegenheit hat, dem Mangel noch fristgerecht abzuhelfen.
Eine Partei darf grds. darauf vertrauen, dass ihre Schriftsätze alsbald nach ihrem Eingang bei Gericht zur Kenntnis genommen und auf offensichtliche äußere formale Mängel hin analysiert werden. Dazu gehört es z.B. zu prüfen, ob eine Unterschrift vorhanden ist. Fehlt eine Unterschrift, ist auf diesen Umstand hinzuweisen (BGH, Beschl. v. 14.10.2008 – VI ZB 37/08). Als äquivalent zu dieser Situation stellt es sich im elektronischen Rechtsverkehr dar, wenn ein Schriftsatz per beA ohne einfache elektronische Signatur eingereicht wird. Auch hier ist aus Fürsorgepflicht ein Hinweis zu erteilen (BAG, Beschl. v. 14.9.2020 – 5 AZB 23/20). Diese Transposition des für Formmängel anerkannten Grundsatzes führt zu weiteren Konsequenzen. Ein richterlicher Hinweis ist auch angezeigt, wenn aus dem Transfervermerk zu erkennen ist, dass ein elektronisches Dokument nicht auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht wurde und die in diesem Fall nötige qualifizierte elektronischen Signatur fehlt (Hess. VGH, Beschl. v. 26.2.2020 – 8 A 2672/19). In gleicher Weise ist z.B. eine gerichtliche Hinweispflicht anzunehmen, wenn eine leere elektronische Nachricht per beA übermittelt wird. Der Hinweispflicht steht der Umstand nicht entgegen, dass der Prozessbevollmächtigte den Fehler selbst hätte entdecken und korrigieren können: „Wer darauf vertrauen darf, dass sein Fehler korrigiert wird, darf dies auch und gerade dann tun, wenn er seinenâEUR™Fehler bemerkt” (BGH, Beschl. v. 28.6.2007 – VâEUR™ZBâEUR™187/06).
Ist ein Gericht einer ihm obliegenden Fürsorgepflicht nicht nachgekommen, ändert sich die Verantwortungslage in einer für die Anwältinnen und Anwälte günstigen Weise. Die entsprechende Konsequenz hat das Bundesverfassungsgericht für den Fall der pflichtwidrigen Nicht-Weiterleitung eines Schriftsatzes wie folgt formuliert: "Dadurch, dass der Schriftsatz in die Verantwortungssphäre des Gerichts übergegangen ist, wirkt sich ein etwaiges Verschulden der Partei bzw. ihres Prozessbevollmächtigten nicht mehr aus" (BVerfG, Beschl. v. 20.6.1995 – 1 BvR 166/93). Das in der eigenen Sphäre der Partei liegende Verschulden tritt somit hinter das staatliche Verschulden zurück (BSG, Beschl. v. 9.5.2018 – B 12 KR 26/18 B). Mit anderen Worten: Unabhängig von einem Verschuldensvorwurf wegen eines Fehlers im anwaltlichen Handeln, ist dieser Fehler jedenfalls nicht mehr ursächlich für die folgende Entwicklung etwa inâEUR™Form einer Fristversäumnis. Deswegen ist Wiedereinsetzung zu gewähren (BAG, Beschl. v. 14.9.2020 – 5 AZB 23/20).
Dieses aus anwaltlicher Sicht günstige Ergebnis hat allerdings einen Preis. Die Fürsorgepflicht des Gerichts beschränkt sich nämlich auf das, was im "im Rahmen des üblichen Geschäftsgangs" möglich ist. Was genau unter einem Handeln "im Rahmen des üblichen Geschäftsgangs" zu verstehen ist, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Rechtssuchende dürfen grds. nicht ...