1. Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und auf ein faires Verfahren
Die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art. 103 Abs. 1 GG, zum Rangverhältnis der beiden Normen s. unten VI. 2.) ist ein häufig gerügter Verfahrensfehler. Gehörsverletzungen sind bei verschiedenen Fallgestaltungen denkbar (s. etwa die Übersicht bei Leitherer in: M-L/K/L/S, SGG § 160 Rn 20 m.w.N.; zur Gehörsverletzung bei zu kurzer Stellungnahmefrist zu einem umfangreichen Sachverständigengutachten und wegen Versagen einer Schriftsatzfrist nach Anhörung des Sachverständigen im Verhandlungstermin, s. BSG, Urt. v. 6.10.2020 – B 2 U 10/19 R, NJW 2021, 2138). Verfahrensfehler müssen, wenn sie berücksichtigt werden sollen, geltend gemacht werden, meist mit der Nichtzulassungsbeschwerde nach § 160a SGG, und sind im Rahmen deren Begründung ordnungsgemäß darzulegen (s. hierzu Leitherer, a.a.O., § 160a Rn 9 ff., 16 ff.).
§ 62 SGG und Art. 103 Abs. 1 GG enthalten allerdings nur Mindestanforderungen, wie Keller (in: M-L/K/L/S/, SGG, § 62 Rn 8 f.) zu Recht anführt; Gerichte sollten sich, so Keller (a.a.O.), im Interesse eines Zusammenwirkens mit den Beteiligten zur Findung einer gerechten Entscheidung nicht scheuen, ihre Auffassung deutlich zu machen und zur Diskussion zu stellen. So verfährt wohl auch der ganz überwiegende Teil der Sozialrichterinnen und Sozialrichter in Deutschland, wobei es allerdings ganz gelegentlich auch "Ausreißer" gibt, wie nachfolgende Ausführungen zeigen.
Im vorliegenden Verfahren vor dem 6. Senat des LSG BW war streitgegenständlich, ob die im Beitrittsgebiet geborene und dort aufgewachsene Klägerin Anspruch auf eine Beschädigtengrundrente nach dem OEG wegen sexuellen Missbrauchs in ihrer Kindheit durch den Stiefvater hatte. Da die Vorfälle sich in der Zeit zwischen dem Inkrafttreten des GG und dem Inkrafttreten des OEG am 16.5.1976 ereignet hatten, mussten die besonderen Voraussetzungen gem. § 10 S. 2 OEG i.V.m. § 10a Abs. 1 S. 1 OEG erfüllt sein, also eine (schädigungsbedingte) Schwerbeschädigung (§ 31 Abs. 2 BVG, GdS von mind. 50). Das SG war von einem GdS von 40 ausgegangen.
In seiner ersten Stellungnahme zur Berufungsbegründung – und auf die hiernach noch aufgrund gerichtlicher Verfügung von der Klägerin vorgelegten Unterlagen – teilte der Beklagte mit, es werde ein GdS von 50 "anerkannt", zu prüfen sei noch die Bedürftigkeit der Klägerin nach § 10a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 OEG. Er erklärte sodann nach Vorlage weiterer Einkommensnachweise durch die Klägerin, auf Grund der bisher eingereichten Unterlagen, die aber weiter zu ergänzen seien, berechne sich eine monatliche Rente der Klägerin von 115,82 EUR. Der Berichterstatter informierte daraufhin die Beteiligten, er gehe von Einigkeit zwischen den Parteien darüber aus, dass ab Rentenantrag die Voraussetzungen für eine Rentenzahlung (GdS von 50) bestehen, näher zu klären sei "nur noch" die Bedürftigkeit. Er forderte die Klägerin auf, weitere, konkret bezeichnete Einkommensbelege vorzulegen. Nachdem dies geschehen war, hat der Beklagte im Mai 2020 eine Übersicht der sich daraus ergebenden Nachzahlung für den Zeitraum ab Antragstellung vorgelegt. Schließlich stellte der Beklagte mit Schriftsatz v. 21.9.2020, dem letzten vor Urteilserlass, die Erteilung eines Bescheids nach § 96 SGG in Aussicht; falls der Senat damit einverstanden sei, würden dazu die Verwaltungsakten an das zuständige LRA übersandt.
Am 6.10.2020 teilte der Berichterstatter mit, im Hinblick auf den zunächst für den 29.10.2020 anberaumten Erörterungstermin – der später aufgehoben wurde, nachdem die von der Klägerin beantragte Durchführung im Rahmen einer Videokonferenz an diesem Tag nicht in Betracht kam – eine Bescheiderteilung sei unter Berücksichtigung des gegenwärtigen Sachstandes "nicht zielführend". Diese Verfügung ging entgegen § 62 SGG nur an den Beklagten, wodurch der Klägerin die Möglichkeit genommen wurde, darauf zu reagieren. Nach Aufhebung des Erörterungstermins hat die Senatsvorsitzende sodann Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt. Zeitgleich erging auf richterliche Anordnung eine Anfrage an die Parteien, ob wegen der aktuellen Corona-Entwicklung einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung "nicht doch" zugestimmt werde, wozu der Senat "dringend anrate". Nach Zustimmung beider Beteiligten hat das LSG durch Urt. v. 3.12.2020 ohne mündliche Verhandlung die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.
Das BSG (Beschl. v. 10.6.2021 – B 9 V 1/21 B, hierzu Dreher jurisPR-SozR 24/2021 Anm. 6) hat entschieden, das LSG habe eine Überraschungsentscheidung getroffen, da es sein Urteil auf Gesichtspunkte gestützt hat, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbevollmächtigter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf nicht zu rechnen brauchte (Rn 11 des Beschlusses). Es hat u.a. in Rn 13 ausgeführt, angesichts der gegebenen Prozesslage sei für die Klägerin und ihren Prozessbevollmächtigten der Inhalt der getroffenen Entscheidung nicht absehbar gewesen. Insbesondere die konkreten Äußerungen des Beklagten zum Vorliegen der Schwerbehinderteneigenschaft bei der Kläg...