Übt eine erwerbsfähige leistungsberechtigte Person während des Bezugs von ALG II/Bürgergeld eine Erwerbstätigkeit aus, ist von dem hieraus erzielten Einkommen nach § 11b Abs. 2 u. Abs. 3 SGB II ein Erwerbstätigenabsetzungsbetrag abzuziehen. In seinem Urt. v. 29.3.2022 – B 4 AS 24/21 R (s. hierzu auch Hengelhaupt, jurisPR-SozR 19/2022 Anm. 1) musste das BSG entscheiden, ob dieser auch von einer Vorauszahlung auf das Arbeitsentgelt abzuziehen ist.
Die 1993 geborene Klägerin zu 1, ihr 2014 geborener Sohn (Kläger zu 2) und ihr Partner und Vater des Klägers zu 2 lebten in einem gemeinsamen Haushalt. Sie bezogen ALG II. Der Partner nahm am 16.2.2015 eine befristete Erwerbstätigkeit mit einem Brutto-Stundenlohn von 10 EUR auf. Für Februar 2015 erhielt er eine Vorabzahlung i.H.v. insgesamt 355 EUR in bar. Am 19.3.2015 wurde seinem Konto der Restbetrag von 218,06 EUR gutgeschrieben. Der Beklagte hob die Leistungsbewilligungen für Februar 2015 auf und forderte Erstattung von Leistungen. Bei der Berechnung der nach der Beschäftigungsaufnahme zustehenden Leistung wurde die Vorabzahlung auf die Arbeitsvergütung ohne Abzug des Erwerbstätigenfreibetrags angerechnet. Während das SG der Klage stattgegeben hatte, wies das LSG die Klagen ab. Mit ihren Revisionen rügten die Kläger die Verletzung von § 11b SGB II. Das BSG entschied, dass auch von der Vorabzahlung der Erwerbstätigenabsetzungsbetrag abzuziehen ist.
Nach st. Rspr. des BSG ist eine Einnahme grds. in dem Monat auf das ALG II/Bürgergeld anzurechnen, in dem sie tatsächlich zufließt (sog. modifizierte Zuflusstheorie). Das BSG qualifizierte die Vorabzahlung als laufende Einnahme, weil sie auf dem Arbeitsvertrag beruhte, nach dem regelmäßige Zahlungen zu erbringen waren (Rn 21 der Gründe). Da sie im Februar 2015 zufloss, musste sie im Februar als Einkommen angerechnet werden (§ 11 Abs. 2 S. 1 SGB II).
Dass der Erwerbstätigenabsetzungsbetrag nach § 11b Abs. 2, Abs. 3 SGB II monatlich abzusetzen ist, leitet das BSG aus dem Wortlaut dieser Absätze ab. In beiden wird der Begriff monatlich verwendet (Rn 22 f.). Es sieht sich in dieser Gesetzesauslegung durch systematische Erwägungen bestätigt. Von dem in einem Monat zugeflossenen Einkommen sind die Ausgaben abzuziehen, die in diesem Monat abfließen (sog. Abflussprinzip; so die st. Rspr., z.B. BSG v. 24.8.2017 – B 4 AS 9/16 R, NZS 2018, 73). Hierfür sprächen außerdem Sinn und Zweck der Erwerbstätigenfreibeträge. Sie sollen zur Verwaltungsvereinfachung beitragen und einen finanziellen Anreiz für die Aufnahme oder Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit schaffen (st. Rspr. des BSG, s. etwa BSG v. 17.9.2020 – B 4 AS 3/20 R, NZS 2021, 196 Rn 21). Unerheblich sei, ob der Arbeitgeber vollständig abrechnet oder nur einen Teilbetrag zahlt. Mit diesem Zweck decke sich die Berücksichtigung der Freibeträge bei Vorabzahlungen. Ob etwas anderes für Arbeitgeberdarlehen (so etwa Eicher/Luik/Harich/Schmidt, SGB II, 5. Aufl. 2021, SGB II 11b Rn 36) gilt, ließ das BSG offen, weil es im vorliegenden Fall nicht entscheidungsrelevant war.
Für eine Hochrechnung der Vorabzahlung auf den Bruttobetrag, wie es das LSG für erforderlich gehalten hatte, sah das BSG keine ausreichende rechtliche Grundlage. Beim Erwerbstätigenabsetzungsbetrag nach § 11b Abs. 2, 3 SGB II seien Steuern auf das Einkommen und Sozialversicherungsbeiträge nicht zu berücksichtigen. Die vom LSG angenommenen verwaltungspraktischen Gründe gegen den Abzug der Freibeträge nach § 11b Abs. 2 u. 3 SGB II bestünden deshalb nicht (Rn 29 der Gründe).
Das BSG hat nach alldem das Urteil des LSG aufgehoben und die Berufung des Beklagten zurückgewiesen.