1. Sozialversicherungspflicht einer Musikschullehrerin an städtischer Musikschule
Die Abgrenzung zwischen abhängiger Beschäftigung und selbstständiger Tätigkeit ist ein „juristisches Dauerthema”. Eine rechtlich fehlerhafte Abwicklung des Vertragsverhältnisses kann für die Beteiligten zu erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen führen, v.a. infolge nachträglicher Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen (s. auch unten Hinweis Nr. 2).
Ob jemand beschäftigt oder selbstständig tätig ist, richtet sich danach, welche Umstände das Gesamtbild der Vertragsleistung prägen und hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen. Die Zuordnung einer Tätigkeit nach deren Gesamtbild zum rechtlichen Typus der Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit setzt voraus, dass alle nach Lage des Einzelfalls als Indizien in Betracht kommenden Umstände festgestellt, in ihrer Tragweite zutreffend erkannt und gewichtet, in die Gesamtschau mit diesem Gewicht eingestellt und nachvollziehbar, d.h. den Gesetzen der Logik entsprechend und widerspruchsfrei gegeneinander abgewogen werden (s. hierzu bereits Sartorius, ZAP F. 18, 1615 ff. und Sartorius/Winkler, ZAP F. 18, 1754 ff. und BSG v. 1.2.2022 – B 12 KR 377/19, Rn 12). Am 14.3.2018 – 12 R 3/17 R – hat das BSG die Beauftragung eines kommunalen Musikschul-Gitarrenlehrers auf honorarvertraglicher Grundlage gebilligt und hierbei dem Aspekt der Vertragsgestaltung – wenn diese „gelebt” wird – größere Bedeutung als in der Vergangenheit beigemessen (Sartorius/Winkler, ZAP F. 18, 1617 f.). Ebenso hat das BAG (v. 21.11.2017 – 9 AZR 117/17, NJW 2018, 1194) einen Musikschullehrer als selbstständig Tätigen angesehen.
Nunmehr ist aber das BSG im Fall einer Musikschullehrerin an einer städtischen Musikschule zum entgegengesetzten Ergebnis gekommen und hat hier abhängige Beschäftigung angenommen (BSG, Urt. v. 28.6.2022 – B 12 R 3/20 R, hierzu Jüttner, jurisPR-SozR 24/2022 Anm. 2 und Zieglmeier, NZS 2022, 863). Maßgeblich war für das Gericht v.a., dass die Lehrerin ihre Tätigkeit in den Räumen der Schule, mit deren Instrumenten erbrachte, inhaltlich an vorgegebene Rahmenlehrpläne und an einen festen Stundenplan gebunden war, sowie nach erbrachten Stunden vergütet wurde, auch für die verpflichtende Teilnahme an Schülervorspielen und Konferenzen.
Zwar ist weiterhin regelmäßig vom Inhalt der zwischen den Beteiligten getroffenen Vereinbarungen auszugehen, den die Verwaltung und die Gerichte konkret festzustellen haben. Das BSG verweist aber auch darauf, die wertende Zuordnung des Rechtsverhältnisses könne nicht mit bindender Wirkung für die Sozialversicherung durch die Vertragsparteien vorgegeben werden, indem sie etwa vereinbaren, eine selbstständige Tätigkeit zu wollen. Dies ergibt sich aus § 32 SGB I, wonach privatrechtliche Vereinbarungen, die zum Nachteil des Sozialleistungsberechtigten von Vorschriften dieses Gesetzbuches abweichen, nichtig sind. Über zwingende Normen könne nicht im Wege der Privatautonomie verfügt werden. Maßgeblich komme es vielmehr auf die tatsächliche Ausgestaltung und Durchführung der Vertragsverhältnisse an. Allenfalls wenn nach der Gesamtabwägung aller Umstände diese gleichermaßen für Selbstständigkeit wie für eine abhängige Beschäftigung sprechen, könne im Einzelfall dem Willen der Vertragsparteien eine gewichtige indizielle Bedeutung zukommen. Das BSG gelangt hier gegenüber der Entscheidung vom 14.3.2018 zu einer anderen Bewertung, was im Wesentlichen mit dem unterschiedlichen Sachverhalt begründet wird. Zieglmeier vertritt in seiner Anmerkung die Auffassung, das BSG habe im Jahre 2018 die getroffene Entscheidung nicht überzeugend begründen können und dem Parteiwillen zu viel Gewicht bei der Statusbeurteilung eingeräumt. Die unterschiedliche Statusbeurteilung habe nicht in erster Linie in einer Divergenz des Sachverhalts bestanden, sondern sei auf eine Änderung der Gewichtung der Abwägungskriterien (weniger Parteiwillen, mehr Eingliederung) zurückzuführen.
Hinweise:
- Zieglmeier legt ferner dar, das zum 1.4.2022 durch § 7a Abs. 4a SGB IV neugeregelte Statusfeststellungsverfahren räume dem Parteiwillen wesentliche Bedeutung ein. Nach S. 2 der Vorschrift sind neben den schriftlichen Vertragsbedingungen die Angaben der Beteiligten, wie das Vertragsverhältnis konkret ausgefüllt und gelebt werden soll, der Statusentscheidung zugrunde zu legen. So kann im Ergebnis die Beurteilung des Erwerbsstatus davon abhängen, wie die Parteien ihr Vertragsverhältnis beschreiben und wie sie die tatsächlichen Umstände der Vertragsdurchführung prognostizieren.
- Misslich ist, so Zieglmeier, dass Träger von Musikschulen, die auf die Rspr. des BSG aus dem Jahre 2018 vertraut haben, nunmehr bei künftig anstehenden Betriebsprüfungen mit Beitragsnachforderungen zu rechnen haben. In der Grenze der vierjährigen Regelverjährung nach § 25 Abs. 1 S. 1 SGB IV können Sozialversicherungsbeiträge von den Arbeitgebern nachgefordert werden, und zwar gilt dies aufgrund der Regelung in § 28g S. 2 u. 3 SGB IV wonach der von den Beschäftigten zu tragende Teil des Gesamtsozialversicherungsbeitrags (§ 28d SGB IV) nu...