a) Grundsatz
Bei der Anordnung einer der beiden Zwangsmaßnahmen muss neben den allgemeinen Voraussetzungen (s.o. II.-IV.) der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachtet werden (OLG Hamburg, StraFo 2012, 60; OLG Nürnberg, Beschl. v. 9.3.2023 – Ws 207/23). Entscheidend ist, ob die Zwangsmittel des § 230 Abs. 2 StPO erforderlich sind, um das Erscheinen des Angeklagten in der Hauptverhandlung sicherzustellen (KG, Beschl. v. 22.7.2019 – 4 Ws 69/19, StraFo 2019, 462; OLG Hamburg, 2012, a.a.O.). Insbesondere ein Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO mit dem damit verbundenen Eingriff in die persönliche Freiheit darf nur dann ergehen, wenn und soweit der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters anders nicht gesichert werden kann. Er dient allein der Verfahrenssicherung in Bezug auf die (weitere) Durchführung der Hauptverhandlung und hat nicht etwa den (Selbst-)Zweck, den Ungehorsam des Angeklagten zu sanktionieren (vgl. nur KG, NJW 2007, 2345; KG, Beschl. v. 19.7.2016 – 4 Ws 104/16; LG Essen, StraFo 2010, 28; LR-Becker, in: Löwe/Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 230 Rn 14 m.w.N.).
Bei der Entscheidung über den Erlass/die Anordnung einer Zwangsmaßnahme sind alle Umstände des Einzelfalls verständig daraufhin zu prüfen, ob die Erwartung gerechtfertigt ist, dass der Angeklagte (zum nächsten Termin) nicht auch ohne Zwang erscheinen wird (BVerfG, NJW 2007, 2318; OLG Hamm, StRR 2013, 275). Die Verhaftung eines Angeklagten ist daher dann nicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar, wenn bei verständiger Würdigung aller Umstände damit gerechnet werden kann, dass der Angeklagte zur neu anberaumten Hauptverhandlung erscheinen wird (OLG Hamm, 2013, a.a.O.; LG Berlin, StRR 2014, 145; s. aber OLG Brandenburg, Beschl. v. 2.3.2020 – 1 Ws 168/19). Von einem erneuten Fernbleiben darf auch nicht allein deshalb ausgegangen werden, weil der Angeklagte lediglich Leistungen vom Jobcenter bezieht und er sich die Anreise zum ersten Hauptverhandlungstermin finanziell nicht leisten konnte (LG Lübeck, Beschl. v. 10.3.2022 – 4 Qs 47/22, StV 2023, 595).
Bei der Prüfung der Erforderlichkeit eines Zwangsmittels ist auch von Belang, ob überhaupt eine Hauptverhandlung erforderlich ist, oder ob diese entbehrlich ist, weil die zu treffende verfahrensabschließende Entscheidung auch im Beschlussweg außerhalb der Hauptverhandlung ergehen kann (OLG Hamburg, StraFo 2012, 60, für wahrscheinlich vorliegende Verjährung).
Zu berücksichtigen ist ggf. zudem, ob die Möglichkeit besteht, das Verfahren auch ohne Anwesenheit des Angeklagten zu beenden, wie z.B. die Möglichkeit der Verwerfung des Einspruchs im Strafbefehlsverfahren (KG, NJW 2007, 2345; OLG Brandenburg, wistra 2012, 43; LG Zweibrücken, StraFo 2006, 289). Von Bedeutung sind auch das Gewicht des Vorwurfs, der dem Angeklagten gemacht wird (LG Koblenz, StraFo 2010, 150), die Höhe der zu erwartenden Strafe (LG Koblenz, 2010, a.a.O.) sowie der Umstand, dass der Angeklagte einen festen Wohnsitz hat (LG Koblenz, 2010, a.a.O.). Insbesondere im Strafbefehlsverfahren ist die Frage der Verhältnismäßigkeit des Erlasses eines Haftbefehls nach § 230 Abs. 2 StPO gegen den ausgebliebenen Angeklagten besonders zu prüfen (KG, NJW 2007, 2345; OLG Düsseldorf, NStZ-RR 1998, 180; LG Essen, StraFo 2010, 28). Zu berücksichtigen wird hier insb. sein, dass ggf. ein vertretungsberechtigter Verteidiger anwesend ist (KG, NJW 2007, 2345; OLG Düsseldorf, NStZ-RR 1998, 180), obwohl das Erscheinen eines nach § 411 Abs. 2 StPO mit einer schriftlichen Vollmacht versehenen Verteidigers in der Hauptverhandlung den Erlass eines Haftbefehls nach § 230 Abs. 2 StPO nicht hindern soll (vgl. aber KG, StraFo 2014, 512; KG, VRS 129, 8).
Grundsätzlich hat der Vorführungsbefehl Vorrang vor dem Haftbefehl, wenn er ausreicht, die Weiterführung und Beendigung des Verfahrens zu sichern (BVerfG, BVerfGE 32, 87; BVerfG, NJW 2007, 2318; SächsVerfGH, Beschl. v. 26.3.2015 – Vf. 26-IV-14; KG, Beschl. v. 19.7.2016 – 4 Ws 104/16; KG, Beschl. v. 22.7.2019 – 4 Ws 69/19, StraFo 2019, 462; OLG Brandenburg, Beschl. v. 2.3.2020 – 1 Ws 168/19; OLG Braunschweig, NStZ-RR 2012, 385 [Ls.]; OLG Düsseldorf, NStZ-RR 1998, 180; StV 2001, 332 m.w.N.; OLG Frankfurt, StV 2005, 432; OLG Hamm, StRR 2013, 275; OLG Nürnberg, Beschl. v. 9.3.2023 – Ws 207/23; LG Berlin, StRR 2014, 145; LG Essen, Beschl. v. 26.7.2022 – 30 Qs 12/22, StraFo 2023, 26; LG Leipzig, Beschl. v. 10.5.2022 – 8 Qs 26/22; LG Lübeck, Beschl. v. 10.3.2022 – 4 Qs 47/22, StV 2023, 595; LG Zweibrücken, NJW 1996, 737, für betrunkenen Angeklagten).
Hinweis:
Bei der Abwägung ist auch § 135 S. 2 StPO zu beachten, der dem Gericht die Möglichkeit gibt, den Angeklagten bereits 24 Stunden vor der Hauptverhandlung in polizeilichen Gewahrsam nehmen zu lassen (zur Geltungsdauer eines Vorführungsbefehl s.u. V.3.). Es kann also auch mit einem Vorführungsbefehl der Gefahr vorgebeugt werden, dass der Angeklagte sich vor der Hauptverhandlung (erneut) in einen verhandlungsunfä...