1. Allgemeines
Im Strafverfahren besteht für die Hauptverhandlung (1. Instanz) grundsätzlich die Anwesenheitspflicht des Angeklagten. Von der kann der Angeklagte nur unter besonderen Voraussetzungen befreit werden (s.u. VI.; Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 10. Aufl. 2022, Rn 4498 m.w.N.; im Folgenden kurz: Burhoff, HV). Nach § 230 Abs. 1 StPO findet bei Ausbleiben des Angeklagten eine Hauptverhandlung i.d.R. nicht statt, damit dieser sein aus dem Grundsatz eines fairen Verfahrens resultierendes Recht, sich selbst zu verteidigen (Art. 6 Abs. 3c EMRK, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG; EGMR, Beschl. v. 8.1.2008 – 30443/03 (Liebreich/Deutschland); BVerfG, Beschl. v. 22.9.1993 – 2 BvR 1732/93, BVerfGE 89, 120 = StV 1993, 620), tatsächlich auch wahrnehmen und seinen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verwirklichen kann. Im Übrigen entspricht der Anwesenheitspflicht ein Anwesenheitsrecht des Angeklagten, der auch dann zur Anwesenheit berechtigt ist, wenn keine Anwesenheitspflicht besteht (OLG Hamm, Beschl. v. 5.11.2020 – III-3 RVs 43/20). Das Gericht darf also dem Angeklagten die Teilnahme an der Hauptverhandlung auch dann nicht verwehren, wenn es ausnahmsweise ohne ihn verhandeln könnte (OLG Hamm, 2020, a.a.O.). Dies gilt insb., wenn er die Teilnahme ernsthaft beabsichtigt, daran aber schuldlos gehindert ist (OLG Hamm, 2020, a.a.O.).
Diese Anwesenheitspflicht des Angeklagten führt dazu, dass der Angeklagte (öffentlich-rechtlich) verpflichtet ist, vor Gericht zu erscheinen und anwesend zu bleiben (§ 231 Abs. 1 StPO), wenn dieses i.R.d. gerichtlichen Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) über seine Schuld und ggf. zu verhängende Sanktionen verhandelt. Nur in bestimmten Fällen, in denen es auf die persönliche Anwesenheit nicht zwingend ankommt, wird der Angeklagte von seinem Erscheinen entbunden (§ 233 StPO; s.u. VI.); in anderen Fällen kann er sich – i.d.R. durch den Verteidiger – vertreten lassen (§ 234 StPO; dazu Burhoff, HV, Rn 3358 ff., 3817 ff.), sofern nicht sein persönliches Erscheinen durch das Gericht angeordnet (§ 236 StPO) oder bei wirksamer Vertretung die Anwesenheitspflicht durch das Gesetz selbst aufgehoben ist (§ 412 S. 1 StPO).
2. Potenzielle Maßnahmen des Gerichts
Zur Sicherung der erforderlichen Anwesenheit des Angeklagten in der Hauptverhandlung ermöglicht die StPO dem Gericht in Fällen, in denen der Angeklagte zu Beginn der Hauptverhandlung trotz ordnungsgemäßer Ladung (s.u. III.) unentschuldigt (s.u. IV.) ausbleibt, auf das Ausbleiben des Angeklagten (s.u. II.) in unterschiedlicher Weise zu reagieren. Es kann
- die Vorführung des Angeklagten zur Hauptverhandlung (§ 230 Abs. 2 StPO) anordnen oder
- gegen den Angeklagten einen sog. Sicherungshaftbefehl erlassen (§ 230 Abs. 2 StPO, s.u. V.2.b),
- abweichend vom Grundsatz des § 230 Abs. 1 StPO in Abwesenheit des ursprünglich erschienenen Angeklagten verhandeln, wenn er sich unerlaubt aus der Hauptverhandlung entfernt, zur Anklage bereits vernommen wurde und das Gericht die weitere Anwesenheit nicht für erforderlich hält (§ 231 Abs. 1 StPO; wegen der Einzelheiten dazu Burhoff, HV, Rn 3358 ff.).
Hinweis:
In der Hauptverhandlung des Bußgeldverfahrens ist die Vorführung des Betroffenen bzw. der Erlass eines Sicherungshaftbefehls nach § 230 Abs. 2 StPO i.V.m. § 71 OWiG nicht zulässig. Hier wird ggf. ohne den Angeklagten verhandelt oder sein Einspruch nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen.