Nach § 230 Abs. 2 StPO muss (!) das Gericht gegen den (unentschuldigt) ausgebliebenen Angeklagten Zwangsmittel ergreifen (s.u. V., VI.). Das gilt nicht, wenn das Ausbleiben des Angeklagten genügend entschuldigt ist. Insoweit kommt es nicht darauf an, ob sich der Angeklagte entschuldigt hat (BGH, Urt. v. 1.8.1962 – 4 StR 122/62, BGHSt 17, 391, 396; BGH, Urt. v. 5.2.1982 – 3 StR 22/82, StV 1982, 153; OLG Köln, Beschl. v. 29.1.2008 – 2 Ws 43/08, StraFo 2008, 29).
Hinweis:
Die dazu vorliegende Rechtsprechung zu § 329 StPO für das Ausbleiben in der Berufungshauptverhandlung gilt entsprechend (dazu Burhoff, HV, Rn 809 ff.).
1. Ausreichend entschuldigt?
Ausreichend entschuldigt ist das Ausbleiben, wenn dem Angeklagten bei Abwägung aller Umstände des Einzelfalls daraus billigerweise kein Vorwurf gemacht werden kann (z.B. BVerfG, Beschl. v. 27.10.2006 – 2 BvR 473/06, NJW 2007, 2318; OLG Brandenburg, Beschl. v. 13.2.1997 – 2 Ss 10/97, NJW 1998, 842; BGH, Beschl. v. 26.5.2020 – 3 StR 595/19, NStZ-RR 2020, 287; OLG Köln, Beschl. v. 8.12.2009 – 81 Ss 77/09, StraFo 2010, 73; KK-Gmel, § 230 Rn 11). Ob diese Voraussetzungen vorliegen, hat das Gericht von Amts wegen im Freibeweisverfahren festzustellen.
Das Verschulden des Angeklagten hinsichtlich des Ausbleibens muss aber zweifelsfrei feststehen (OLG Hamm, Beschl. v. 15.2.2007 – 3 Ss 573/06). Insgesamt gelten zum Ausbleiben und auch zur Nachforschungspflicht des Gerichts betreffend die Hauptverhandlung 1. Instanz die Anforderungen zu § 329 StPO für das Ausbleiben in der Berufungshauptverhandlung entsprechend (Meyer-Goßner/Schmitt, § 230 Rn 16; aus der Rechtsprechung vgl. nur BayObLG, Beschl. v. 12.9.2000 – 5 St RR 259/00, StV 2001, 338; BayObLG, Beschl. v. 6.11.2002 – 5 St RR 279/02, NStZ-RR 2003, 87; BayObLG, Urt. v. 25.10.2022 – 206, StRR 286/22; KG, Beschl. v. 2.12.2021 – 3 Ws (B) 323/21, NStZ-RR 2022, 125; OLG Bamberg, Beschl. v. 28.11.2011 – 3 Ss OWi 1514/11, zfs 2012, 230; OLG Frankfurt, Beschl. v. 2.11.2015 – 1 Ss 322/15; OLG Hamburg, Beschl. v. 7.1.2016 – 2 Rev 87/15; OLG Hamm, Beschl. v. 8.4.1998 – 2 Ss 394/98, StraFo 1998, 233; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.12.2021 – 2 Rv 35 Ss 670/21, StraFo 1999, 25; OLG Köln, Beschl. v. 10.12.2008 – 2 Ws 613/08, NStZ-RR 2009, 112; OLG München, Beschl. v. 27.10.2008 – 5St RR 200/08, NJW 2008, 3797, zwei unterschiedliche Ladungen an einen geistig Behinderten; OLG München, Beschl. v. 27.6.2017 – 5 OLG 15 Ss 173/17, StV 2018, 151 [Ls.]; StraFo 2014, 79, privatärztliches Attest; OLG Nürnberg, Beschl. v. 19.1.2009 – 2 St OLG Ss 259/08, NJW 2009, 1761; OLG Schleswig, zfs 2006, 53 [OWi-Verfahren]; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 7.4.2005 – 1 Ss 40/05, zfs 2006, 233; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 19.1.2018 – 1 OWi 2 SsBs 84/17 [OWi-Verfahren]; LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 5.2.2024 – 12 Qs 3/24 für das Strafbefehlsverfahren).
Hinweis:
Verbleiben trotz schlüssigem Vortrag des Angeklagten bei Gericht Zweifel am Entschuldigtsein, dürfen sich diese nicht zum Nachteil des Angeklagten auswirken (h.M.; vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, § 329 StPO Rn 22 m.w.N.).
2. Rechtsprechungsbeispiele
Hinzuweisen ist auf folgende Rechtsprechungsbeispiele (z.T. entnommen Burhoff, HV, Rn 455 f.; vgl. dort auch wegen weiterer Beispiele und bei Burhoff, HV, Rn 809 ff.):
Beispiele für eine genügende Entschuldigung:
- ggf. wenn der Angeklagte nach einem vor der Hauptverhandlung gestellten Aussetzungsantrag nicht erscheint (BGHSt 24, 143; s.o. III.);
- ggf. falsche Auskünfte des Verteidigers (KG, DAR 2012, 395 für das Bußgeldverfahren; OLG Hamm NStZ-RR 1997, 113; NStZ-RR 2010, 245, Mitteilung werde wegen einer Erkrankung des Verteidigers aufgehoben; OLG Karlsruhe, AnwBl. 1977, 224, falsche Uhrzeit für Verhandlungsbeginn; OLG Köln, NStZ-RR 1997, 208, Auskunft des Büros des Verteidigers, der Angeklagte brauche nicht zu erscheinen; LG Braunschweig, Urt. v. 12.2.2020 – 5 Ns 301/19; LG Frankfurt/O., VRR 2013, 475, vorrangige Entscheidung über ein Ablehnungsgesuch), nicht aber, wenn der Angeklagte bereits eine anderslautende Mitteilung des Gerichts erhalten hat (OLG Koblenz, VRS 44, 290; ähnl. BayObLG, NStZ-RR 2003, 85; auch noch KG, Beschl. v. 8.2.2021 – 3 Ws (B) 26/21, Bußgeldverfahren; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 24.10.2019 – 1 Rv 21 Ss 716/19, zfs 2020, 46; LG Potsdam, NStZ-RR 2013, 317 [Ls.]; AG Bamberg, Beschl. v. 7.9.2017 – 23 OWi 2311 Js 9332/17, Terminsverlegung);
- ggf. die irrtümliche Annahme, der Verteidiger sei zur Vertretung berechtigt (BayObLG, Entsch. v. 1.2.1956 – RReg 1 St 508/55, NJW 1956, 838; Rüth, DAR 1978, 211);
- i.d.R. eine Kraftfahrzeugpanne (OLG Hamm, VRS 7, 31; DAR 1999, 277 [Ls.]; OLG Karlsruhe, NJW 1973, 1515);
- Krankheit, wenn sie nach Art und Auswirkungen eine Beteiligung an der Hauptverhandlung unzumutbar macht (KG, Beschl. v. 2.12.2021 – 3 Ws (B) 323/21, NStZ-RR 2022, 125, Gastroenteritis; OLG Brandenburg, Beschl. v. 10.1.2022 – 1 OLG 53 Ss-OWi 586/21; OLG Düsseldorf, NStZ 1984, 331, für Abszess in der Mundhöhle; OLG Hamm, StraFo 1998, 233, für Eiterausbruch am Bein und Gesäß; OLG Hamm, Beschl. v. 6.1.2022 – III-5 RVs 131/2...