Leitsatz
Dem Vertrauensschutz der Erblasserin, dem das BVerfG einen hohen Wert beimisst, muss deshalb der Vorrang eingeräumt werden, in Fällen in denen die Entscheidung des EGMR nach dem Tod des Erblassers erging, er also entsprechend dem Beschluss des BVerfG vom 20. November 2003 (FamRZ 2004, 433) auf die Verfassungsmäßigkeit des Art. 12 I § 10 Abs. 2 Satz 1 NEhelG vertrauen durfte und dadurch u. U. von der Abfassung einer letztwilligen Verfügung abgehalten wurde. Art. 14 Abs. 1 GG gewährleistet aber auch die Testierfreiheit des Erblassers.
OLG Stuttgart, Beschluss vom 24. November 2009 – 8 W 462/09
Sachverhalt
Die Antragstellerin ist das nichteheliche und einzige Kind des Bruders der Erblasserin, ..., geb. am 5. Oktober 1909, der am 10. Juni 1976 verstorben ist. Die Antragstellerin wurde am 25. April 1931 geboren. ... Der Bruder hatte am 22. Mai 1931 die Vaterschaft zu dem Kind anerkannt.
Die Erblasserin ist am 5. Februar 2009 gestorben. Im Rahmen der Amtsermittlung der gesetzlichen Erben durch das Notariat Leutkirch ergab sich, dass die Erblasserin selbst keine Kinder hatte und ihre Eltern vorverstorben waren. Es wurden ihre Geschwister und deren Nachkommen ermittelt, u. a. die Antragstellerin nach dem vorverstorbenen Bruder der Erblasserin, ihrem nichtehelichen Vater. Der Erbteil würde entsprechend dem Schreiben des Notariats vom 22. Oktober 2009 für die Antragstellerin 1/5 aus einem Nettonachlasswert von 174.451 EUR und damit 34.890,20 EUR betragen.
Am 30. Oktober 2009 hat die Antragstellerin beim Notariat Leutkirch die Erteilung eines Erbscheins beantragt, wonach sie gesetzliche Miterbin zu 1/5 nach der Erblasserin ist. Das Nachlassgericht hat den Antrag mit Beschluss vom 30. Oktober 2009 zurückgewiesen. Hiergegen hat die Antragstellerin (...) Beschwerde eingelegt, der das Notariat nicht abgeholfen hat. Es hat die Akten (...) dem Oberlandesgericht zur Entscheidung vorgelegt.
Aus den Gründen
Die befristete Beschwerde der Antragstellerin ist gem. den §§ 58 ff FamFG zulässig. Die nach dem Sterbefall am 5. Februar 2009 eingeleitete Erbenermittlung nach § 41 LFGG BW ist eine Verrichtung von Amts wegen. Die Erteilung eines Erbscheins setzt dagegen einen entsprechenden Antrag (§ 2353 BGB) voraus. Das Erteilungsverfahren darf nicht von Amts wegen eingeleitet werden.
Der entsprechende Antrag wurde unter Abgabe der eidesstattlichen Versicherung nach § 2356 Abs. 2 BGB am 30. Oktober 2009 beim Notariat – Nachlassgericht – Leutkirch im Allgäu I gestellt, mithin nach dem Inkrafttreten des FamFG am 1. September 2009 (Art. 112 FGGRG). Nachdem es sich nicht um ein Amtsverfahren, sondern um ein ausschließliches Antragsverfahren handelt, ist nach Art. 111 Abs. 1 Satz 1 FGGRG das neue Recht anwendbar (Engelhardt in Keidel, FamFG, 16. Aufl. 2009, Art. 111 FGGRG Rn 4).
Das Nachlassgericht hat den Antrag durch Beschluss gem. § 38 FamFG zurückgewiesen. Hiergegen ist die Beschwerde gem. § 58 Abs. 1 FamFG statthaft (Meyer-Holz in Keidel, aaO, § 58 FamFG Rn 43 und 48). Die Antragstellerin ist gem. § 59 Abs. 2 FamFG beschwerdeberechtigt. Der Beschwerdewert ist gem. § 61 Abs. 1 FamFG erreicht und das Rechtsmittel wurde innerhalb der gesetzlichen Frist des § 63 Abs. 1 FamFG in der vorgeschriebenen Form (§ 64 Abs. 2 FamFG) beim Notariat (§ 64 Abs. 1 FamFG) eingelegt.
Nach neuem Recht ergibt sich die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts als Beschwerdegericht aus § 119 Abs. 1 Nr. 1 b GVG nF iVm § 23 a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2 GVG nF, § 38 LFGG.
(...) Die Beschwerde ist unbegründet und deshalb durch Beschluss (§ 69 FamFG) zurückzuweisen. (...) Der Antragstellerin steht als nichtehelicher Tochter des vorverstorbenen Bruders der Erblasserin kein Erbrecht zu. Dies folgt aus Art. 12 I § 10 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder (NEhelG), nachdem sie vor dem 1. Juli 1949 geboren wurde.
Die Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmung wurde vom BVerfG wiederholt bestätigt mit der Grundsatzentscheidung vom 8. Dezember 1976 (NJW 1977, 1677), der Entscheidung vom 3. Juli 1996 (Az. BvR 563/96) nach der deutschen Wiedervereinigung und im Nichtannahmebeschluss vom 20. November 2003 (FamRZ 2004, 433), dem die Entscheidung des OLG Saarbrücken vom 29. September 2003 (OLGR 2003, 448) vorausging, die wiederum der Individualbeschwerde Nr. 3545/04 gegen die Bundesrepublik Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 5. Sektion (EGMR) zugrunde lagen. Die Beschwerde wurde von diesem am 28. Mai 2009 (FamRZ 2009, 1293) dahin entschieden, dass die in Art. 12 I § 10 Abs. 2 Satz 1 NEhelG enthaltene Regelung, nach der die vor dem 1. Juli 1949 geborenen nichtehelichen Kinder von der gesetzlichen Erbfolge nach ihrem Vater ausgeschlossen sind, gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 14 iVm Art. 8 EMRK verstößt.
Hierauf stützt die Antragstellerin ihre Beschwerde und verweist im Übrigen auf den "Görgülü-Beschluss" des BVerfG vom 14. Oktober 2004 (NJW 2004, 3407). Danach erstreckt sich die Bindungswirkung einer Entscheidung des EGMR gem. Art. 59 Abs. 2 i...