I. Inhalt der Strategie
Hat der Erblasser bei der Schenkung an den Pflichtteilsberechtigten eine Anrechnungsbestimmung vergessen, so bietet sich als Strategie zur Berücksichtigung beim Pflichtteil die sog. "Flucht in die Pflichtteilsergänzung" an: Dabei nutzt man aus, dass die Anrechnung beim Pflichtteilsergänzungsanspruch aus § 2325 Abs. 1 BGB anders ausgestaltet ist als beim ordentlichen Pflichtteilsanspruch aus § 2303 BGB: Während eine Anrechnung eines Eigengeschenks beim ordentlichen Pflichtteilsanspruch nach § 2315 Abs. 1 BGB eine Anrechnungsbestimmung des Erblassers erfordert, erfolgt die Anrechnung auf den Pflichtteilsergänzungsanspruch nach § 2327 Abs. 1 Satz 1 BGB auch ohne Anrechnungsbestimmung.
Der BGB-Gesetzgeber von 1900 begründete diese "automatische" Anrechnung in § 2327 Abs. 1 Satz 1 BGB mit nicht näher spezifizierten "Rücksichten der Billigkeit". In der Sache geht es dabei um einen Ausschluss widersprüchlichen Verhaltens: Wenn der Pflichtteilsberechtigte sich darauf beruft, dass die Schenkung an einen Dritten (der ebenfalls Pflichtteilsberechtigter sein kann) nach § 2325 Abs. 1 BGB seine eigenen Pflichtteilsansprüche erhöht, dann kann er nicht im gleichen Zug verlangen, dass sein Eigengeschenk pflichtteilsrechtlich unberücksichtigt bleibt. Der Gesetzgeber der Erbrechtsreform hat hieran nichts geändert.
1. Durchführung der Anrechnung nach § 2327 Abs. 1 Satz 1 BGB
Variante 1 zum Beispielsfall: E verschenkt im Januar 2010 sein Sparguthaben an D. Zwecks Erfüllung tritt E sofort den Anspruch auf Rückzahlung des Sparguthabens, der ihm gegen die Sparkasse (S) aus § 488 Abs. 1 Satz 2 BGB in Höhe von 60.000 EUR zusteht, an D ab. E stirbt im Juli 2010. In welcher Höhe partizipiert P am Vermögen des E?
Die Regelung des § 2327 Abs. 1 Satz 1 BGB kann der Erblasser ausnutzen, indem er mit dem voraussichtlichen Erben einen lebzeitigen Schenkungsvertrag abschließt und diesen zu Lebzeiten durch dingliche Übertragung des verschenkten Gegenstands erfüllt. Hierdurch wird der für § 2311 Abs. 1 BGB relevante Nachlasswert vermindert – und damit auch der Umfang des ordentlichen Pflichtteilsanspruchs. Zwar steht dem Pflichtteilsberechtigten wegen des an den Erben verschenkten Gegenstandes als Kompensation ein Pflichtteilsergänzungsanspruch aus § 2325 Abs. 1 BGB zu. Auf diesen muss sich der Pflichtteilsberechtigte nach § 2327 Abs. 1 Satz 1 BGB aber das Eigengeschenk anrechnen lassen.
Lösung Variante 1: P steht gegen D ein Pflichtteilsanspruch aus § 2303 Abs. 1 Satz 1 BGB auf Zahlung von 50.000 EUR zu, der sich aus dem zum Nachlass gehörenden Grundstück im Wert von 100.000 EUR ergibt. Der Pflichtteilsergänzungsanspruch des P gegen D aus § 2325 Abs. 1 BGB berechnet sich – wegen des Eigengeschenks an P – nach § 2327 Abs. 1 Satz 1 BGB wie folgt: Zunächst ist die Summe aller Schenkungen zu ermitteln. Dabei ist die Schenkung an P aus dem Januar 2004 mit dem (inflationsbereinigten) Wert von 40.000 EUR anzusetzen. Dass seit der Schenkung an P bis zum Tod des E über sechs Jahre vergangen sind, mindert den Wert der Schenkung nicht gemäß § 2325 Abs. 3 Satz 1 BGB um 6/10 (d. h. von 60.000 EUR auf 36.000 EUR), da die zeitliche Schranke des § 2325 Abs. 3 BGB für die Berücksichtigung von Eigengeschenken bei § 2327 Abs. 1 Satz 1 BGB nicht gilt. Der BGB-Gesetzgeber von 1900 hat eine entsprechende Anwendung des § 2325 Abs. 3 bei § 2327 Abs. 1 Satz 1 BGB ausdrücklich abgelehnt; die Erbrechtsreform hat hieran nichts geändert. Die Zuwendung an die Lebensgefährtin D ist mit 60.000 EUR anzusetzen; dabei ist unerheblich, ob es sich hierbei um eine echte Schenkung nach den §§ 516 ff BGB oder um eine (auch in der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mögliche) "unbenannte Zuwendung" handelt. Die Summe der Schenkungen an P und D beträgt daher 40.000 EUR + 60.000 EUR = 100.000 EUR. Dieser Wert ist mit der Pflichtteilsquote des P von 1/2 zu multiplizieren, danach ist die Schenkung an P in Höhe von 40.000 EUR abzuziehen. Der Ergänzungspflichtteil des P beträgt somit 100.000 EUR * 1/2 – 40.000 EUR = 50.000 EUR – 40.000 EUR = 10.000 EUR. P steht gegen D ein Anspruch aus § 2303 Abs. 1 Satz 1 BGB auf Zahlung von 50.000 EUR und ein Anspruch aus § 2325 Abs. 1 BGB auf Zahlung von 10.000 EUR zu. Zusammen mit der bereits 2004 erhaltenen Schenkung von 40.000 EUR partizipiert P im Endergebnis daher (nur) in Höhe von 100.000 EUR am Vermögen des E. Dass P damit 20.000 EUR weniger erhält als ohne die Schenkung an Erbin D beruht darauf, dass P si...