Der soeben beschriebene Nachteil der "Flucht in die Pflichtteilsergänzung" lässt sich jedoch vermeiden, wenn der Erblasser den voraussichtlichen Erben nicht direkt beschenkt, sondern ihn stattdessen als begünstigten Dritten eines Vertrags zugunsten Dritter auf den Todesfall benennt. Praktische Hauptanwendungsfälle hierfür sind die Benennung eines widerruflich Bezugsberechtigten für den Todesfall bei der Lebensversicherung und die Anlegung eines Sparbuchs auf den Namen des Dritten, wobei der Erblasser das Sparbuch zu Lebzeiten in seinem Besitz behält.
Variante 2 zum Beispielsfall: E vereinbart im Januar 2010 für sein Sparguthaben mit der Sparkasse (S) einen Vertrag zugunsten Dritter auf den Todesfall, wonach D bei Tod des E einen Anspruch auf Auszahlung des zu diesem Zeitpunkt noch vorhandenen Guthabens erhalten soll. Bei Tod des E im Juli 2010 befinden sich 60.000 EUR auf dem Sparkonto. In welcher Höhe partizipiert P am Vermögen des E?
I. Auswirkungen im Pflichtteilsrecht
Da der Dritte den Anspruch nach den §§ 328 Abs. 1, 331 Abs. 1 BGB nach Ansicht der Rechtsprechung originär erwirbt, fällt dieser Anspruch nicht in den Nachlass des Erblassers und wird daher bei der Berechnung des ordentlichen Pflichtteilsanspruchs nach § 2311 Abs. 1 Satz 1 BGB nicht berücksichtigt. Da dem Anspruchserwerb des Dritten als Rechtsgrund im Valutaverhältnis eine lebzeitige Schenkung nach den §§ 516 ff BGB zugrunde liegt, steht dem Pflichtteilsberechtigten deswegen zwar ein Pflichtteilsergänzungsanspruch aus § 2325 Abs. 1 BGB zu. Auf diesen Anspruch muss sich der Pflichtteilsberechtigte aber nach § 2327 Abs. 1 Satz 1 BGB das Eigengeschenk anrechnen lassen.
Da die Schenkung an den Dritten erst mit dem Tod des Erblassers nach § 518 Abs. 2 BGB vollzogen wird, wird die Frist des § 2325 Abs. 3 Satz 2 BGB gar nicht erst in Gang gesetzt. Der nach den §§ 328 Abs. 1, 331 Abs. 1 BGB erworbene Anspruch des Dritten ist gemäß § 2325 Abs. 3 Satz 1 BGB in seinem vollen Umfang zu berücksichtigen; eine "Abschmelzung" findet nicht statt. Es ist daher – anders als bei "normalen" Schenkungen an den voraussichtlichen Erben – ausgeschlossen, dass der Pflichtteilsergänzungsanspruch noch zu Lebzeiten des Erblassers unter den Wert des anrechnungspflichtigen Geschenks sinkt und damit eine Anrechnung nach § 2327 Abs. 1 Satz 1 BGB teilweise verhindert.
Lösung Variante 2: P steht gegen D ein Pflichtteilsanspruch aus § 2303 Abs. 1 Satz 1 BGB auf Zahlung von 50.000 EUR zu, der sich aus dem zum Nachlass gehörenden Grundstück im Wert von 100.000 EUR ergibt. Der originär erworbene Anspruch der D auf Zahlung von 60.000 EUR aus § 488 Abs. 1 Satz 2 BGB iVm den §§ 328 Abs. 1, 331 Abs. 1 BGB fällt nicht in den Nachlass des E und bleibt daher bei der Ermittlung des Nachlasswerts nach § 2311 Abs. 1 Satz 1 BGB unberücksichtigt. Der Pflichtteilsergänzungsanspruch des P gegen D aus § 2325 Abs. 1 BGB berechnet sich – wegen des Eigengeschenks an P – nach § 2327 Abs. 1 Satz 1 BGB wie in Variante 1: Die Schenkung an P ist mit dem inflationsbereinigten Wert von 40.000 EUR anzusetzen. Für die Höhe der Schenkung an D ist der Wert des Sparguthabens bei Tod des E anzusetzen, also 60.000 EUR. Die Summe der Schenkungen an P und D beträgt daher 40.000 EUR + 60.000 EUR = 100.000 EUR. Der Ergänzungspflichtteil des P beträgt 100.000 EUR * 1/2 – 40.000 EUR = 10.000 EUR. P steht gegen D ein Anspruch aus § 2303 Abs. 1 Satz 1 BGB auf Zahlung von 50.000 EUR und ein Anspruch aus § 2325 Abs. 1 BGB auf Zahlung von 10.000 EUR zu. Zusammen mit der bereits 2004 erhaltenen Schenkung von 40.000 EUR partizipiert P im Endergebnis daher (nur) in Höhe von 100.000 EUR am Vermögen des E. Wie in Variante 1 beruht dies darauf, dass P sich das Eigengeschenk auf seinen Anspruch aus § 2325 Abs. 1 BGB anrechnen lassen muss.