aa) Vorbemerkung
Die Prüfungsreihenfolge und die zu verwendende Terminologie sind in der Literatur und Praxis nach wie vor umstritten. Dies liegt u. a. daran, dass die Urteile des EuGH oftmals sehr knapp, unterschiedlich strukturiert und kaum transparent gefasst sind und der EuGH die entwickelten Dogmatiken nicht stringent durchhält. Im Folgenden wird die Prüfung der Grundfreiheiten an die Prüfungsreihenfolge von Grundrechten angelehnt. Der erste Prüfungspunkt "Schutzbereich der Grundfreiheit" wird allgemein und für die evtl. betroffenen Grundfreiheiten zusammen geprüft. Im Anschluss wird der sachliche Anwendungsbereich der infrage kommenden Grundfreiheiten diskutiert. Die Prüfung der Beeinträchtigung und Überlegungen zur möglichen Rechtfertigung erfolgen im Anschluss.
b) b Schutzbereich der Grundfreiheiten
Die Europäischen Grundfreiheiten schützen in der Hauptsache die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten sowie Personen- und Kapitalgesellschaften. Der Nachlasserwerber der Holding-Anteile als Steuerschuldner ist möglicher Adressat und fällt somit in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundfreiheiten. Hinzu kommt eine notwendige wirtschaftliche Betätigung im Bereich des Binnenmarkts, die explizit dem Schutz des Gemeinschaftsrechts unterstellt ist. Das Erfordernis einer grenzüberschreitenden Betätigung wird vom EuGH insgesamt großzügig behandelt. Nach ständiger Rechtsprechung und nach herrschender Literaturmeinung muss wenigstens ein grenzüberschreitender Sachverhalt gegeben sein, damit die Grundfreiheiten zur Anwendung gelangen. Die grenzüberschreitende Beteiligung an der österreichischen Holding genügt dem Erfordernis des Binnenmarktbezugs.
cc) Sachlicher Anwendungsbereich
aaa) Niederlassungsfreiheit
Die Niederlassungsfreiheit, Art. 43 ff AEUV, schützt das Recht natürlicher und juristischer Personen, sich im Hoheitsgebiet jedes Mitgliedstaates niederzulassen, um eine selbstständige Tätigkeit auszuüben, oder durch Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen, Betriebsstätten oder Tochtergesellschaften in einem anderen als dem Mitgliedstaat, in dem sie ansässig sind, tätig zu werden. Wesentliches Merkmal ist die Aufnahme einer wirtschaftlichen Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat, d. h. eine Erbringung von Leistungen gegen Entgelt, die im vorliegenden Fallbeispiel gegeben ist und vom weiten Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit umfasst wird.
bbb) Kapitalverkehrsfreiheit
Der Anwendungsbereich der Kapitalverkehrsfreiheit ist durch Art. 56 Abs. 1 AEUV und die nachfolgenden Art. 57 und 58 abgegrenzt und umfasst den Kapitalverkehr sowohl zwischen den Mitgliedstaaten als auch zwischen Mitgliedstaaten und dritten Ländern. Schon aus diesem Grund ist der sachliche Anwendungsbereich wesentlich weiter als jener der anderen Grundfreiheiten, die nur den Wirtschaftsverkehr im Binnenmarkt umfassen. Im AEU-Vertrag fehlt es an einer begrifflichen Definition des Kapitalverkehrs. Zur Bestimmung des Kapitalverkehrs greift der EuGH der ständigen Rechtsprechung auf die Aufzählung von Kapitalverkehrsvorgängen in der Kapitalverkehrsrichtlinie (insbes. Anhang I) zurück. Die Kapitalverkehrsrichtlinie enthält eine nicht abschließende Aufzählung der Vorgänge, die unter den Kapitalverkehr fallen, darunter sämtliche Arten entgeltlicher und unentgeltlicher Wertübertragungen als Erscheinungsformen des Kapitalverkehrs, bspw. Direktinvestitionen, Immobilieninvestitionen, Geschäfte mit Wertpapieren und anderen Geldmarktinstrumenten, Darlehen, Kredite, Bürgschaften, Garantien, Schenkungen, Erbschaften sowie die Ein- und Ausfuhr von Vermögenswerten. Bei der Beteiligung an einer Gesellschaft ist ungeachtet des Ausmaßes dieser Beteiligung ein von der Kapitalverkehrsfreiheit geschützter Sachverhalt gegeben. Gegenüber der Niederlassungsfreiheit ist eine klare Trennung im Sinne einer einfachen tatbestandlichen Exklusivi...