Die dargestellte Argumentation verfängt nicht. Der (spätere) Erblasser lässt bei der Überlassung des Wohnraums sein Vermögen gerade nicht brach liegen. Vielmehr wird der Erblasser in dem Augenblick aktiv, in dem er den Wohnraum nicht leer stehen, sondern einem Dritten überlässt. Er ergreift die Chance der Vermögensmehrung, indem er den Wohnraum einer anderen Person überlässt.
Passiv ist demgegenüber das Unterlassen, Chancen zur Vermögensmehrung nicht zu ergreifen. Jede davon abweichende Aktion ist kein Brachliegenlassen mehr.
In der Konsequenz erlässt der (spätere) Erblasser lediglich die übliche Anforderung des Mietzinses. Der einzige Unterschied zwischen der Vermietung und der kostenfreien Überlassung des Wohnraums besteht darin, dass der eigentlich zu zahlende Mietzins nicht auf dem Konto des Erblassers ankommt, sondern beim Begünstigten verbleibt. Dies gilt unabhängig davon, ob der Erblasser dem Begünstigten kostenfrei eine Wohnung in einem Mehrparteienhaus überlässt, in dem er weiteren Wohnraum kostenpflichtig an Dritte vermietet hat, oder ihm bisher rein private Wohnräume überlässt. Maßgebend ist die Umwidmung der Räume durch den Erblasser.
Bei der unentgeltlichen Überlassung einer Wohnung verzichtet der Erblasser insoweit auf Mieteinnahmen. Just in diesem Verzicht liegt eine vermögensrechtliche Bereicherung des Abkömmlings, weil ihm der Erblasser Mietaufwendungen erspart. Gerade wenn sich die unentgeltliche Nutzung über mehrere Jahre hinzieht, kann es sich um einen erheblichen Vermögensvorteil handeln, der sehr wohl im Rahmen des Pflichtteilsergänzungsrechts zu berücksichtigen ist. Zwischen dem (späteren) Erblasser und dem Abkömmling besteht regelmäßig Einigkeit, dass es sich um eine unentgeltliche Zuwendung handelt, die dann folgerichtig auch im Rahmen des Pflichtteilsergänzungsrechts Berücksichtigung finden müsste.
Alles andere würde zur Wucherung von Umgehungstatbeständen führen. Beispielsweise wird der Erblasser, der eingedenk, dass unentgeltliche Gebrauchsüberlassungen im Pflichtteilsergänzungsrecht keine Rolle spielen, für seine neue Lebensgefährtin ein luxuriöses Auto erwerben und es dieser kostenfrei zur Verfügung stellen. Oder er kauft nach den Wünschen des Lieblingskindes eine Immobilie und überlässt ihm und dessen Familie diese kostenfrei, bis die Immobilie abgewohnt ist oder das Kind umziehen möchte. Faktisch macht es keinen Unterschied, ob der Erblasser der Lebensgefährtin die Leasingraten für ihr Luxusauto oder dem Lieblingskind die Miete der Wunschimmobilie bezahlt.
Zu beachten ist auch die unpassende Parallele zu den Entscheidungen des BGH im Erbvertragsrecht und im Recht der Vor- und Nacherbschaft. Anders als bei den Anfechtungstatbeständen im Erbvertragsrecht und im Recht der Vor- und Nacherbschaft besteht die Besonderheit des Pflichtteilsergänzungsrechts nach § 2325 BGB gerade darin, die lebzeitige Verfügungsbefugnis des Erblassers zu erhalten. Die Wirksamkeit der durch den Erblasser abgeschlossenen Rechtsgeschäfte bleibt unangetastet. Von einer Sanktion des Erblassers und seiner Vermögensverwaltung kann im Pflichtteilsergänzungsrecht also gar keine Rede sein. Die Argumente des BGH aus anderen erbrechtlichen Sachverhalten lassen sich, ohne den Sinn und Zweck der unterschiedlichen erbrechtlichen Vorschriften komplett zu verdrehen, nicht 1:1 übertragen. Dem Pflichtteilsergänzungsrecht ist der Schutzgedanke immanent. Die Außerachtlassung einer derart erheblichen Übervorteilung, wie der kostenfreien Überlassung von Wohnraum an einzelne Abkömmlinge, die auch faktisch eine Minderung des Erblasservermögens darstellt, bedeutet eine unzumutbare Schlechterstellung des Pflichtteilsberechtigten.
Es ist daher geboten, die Relevanz derartiger Gebrauchsüberlassungen in der Pflichtteilsergänzung zu konsolidieren, um eine Aushöhlung des Pflichtteilsrechts zu vermeiden.
Eine Einschränkung oder Infragestellung der Verfügungsbefugnis des Erblassers ist damit nicht verbunden. Die vorrangige Fokussierung auf den Schutz des Pflichtteilsberechtigten gelingt ohne wesentliche Einschränkung der übrigen Akteure in der erbrechtlichen Situation der Pflichtteilsergänzung. Zumal auch eine Inanspruchnahme des direkt Beschenkten nach § 2329 BGB ausscheidet. Lediglich bei noch werthaltigem Nachlass kann der Pflichtteilsberechtigte einen Ausgleich erhalten.