Nachdem die abstrakten Auslegungsgrundsätze herausgearbeitet wurden, soll nun betrachtet werden, an welchen Stellen das Erbschaftsteuergesetz zivilrechtsakzessorisch und an welchen Stellen wirtschaftlich-teleologisch ausgelegt wird.
1. Der Erwerb von Todes wegen (§ 3 ErbStG)
In § 3 ErbStG findet sich eine abschließende Aufzählung der steuerbaren Tatbestände des Erwerbs von Todes wegen. § 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG enthält einen gesetzlichen Klammerverweis auf den Erbfall (§ 1922 BGB), das Vermächtnis (§§ 2147 ff. BGB) und den Erwerb aufgrund eines geltend gemachten Pflichtteilsanspruchs (§§ 2303 ff. BGB). § 3 Abs. 1 Nr. 2 S. 1 ErbStG verweist zudem auf die Schenkung auf den Todesfall (§ 2301 BGB). Neben den gesetzlichen Klammerverweisen werden in den übrigen Erwerbstatbeständen Zivilrechtsbegriffe verwendet, beispielsweise die Auflage in § 3 Abs. 2 Nr. 2 ErbStG. Es wird auch von einem "Regelungsdefizit" und "struktureller Abhängigkeit" des Erbschaftsteuerrechts gesprochen, da das Erbschaftsteuergesetz im Bereich der Rechtsnachfolge von Todes wegen die wesentlichen Voraussetzungen aus dem Erbrecht entlehnt.
Stellenweise weicht § 3 ErbStG bei der Einordnung von Vermögensanfällen von der Dogmatik des Zivilrechts ab. So behandelt § 3 Abs. 1 Nr. 4 ErbStG (Vertrag zugunsten Dritter) einen Erwerb unter Lebenden als einen Erwerb von Todes wegen. § 3 Abs. 2 Nr. 4 ErbStG (Abfindung für Erbverzicht) qualifiziert einen Erwerb vom Erben zum Erwerb vom Erblasser um. Abgesehen von diesen dogmatischen Abweichungen bei der Einordnung des Vermögensanfalls knüpft das Erbschaftsteuerrecht jedoch eng an das Zivilrecht an.
2. Zivilrechtsakzessorische Auslegung
Aufgrund der gesetzlichen Klammerverweise wird § 3 ErbStG streng zivilrechtsakzessorisch ausgelegt. Nicht jeder kausal auf einem Todesfall beruhende Vermögensvorteil ist steuerbar, sondern nur solche Vorgänge, die einen der in § 3 ErbStG genannten zivilrechtlichen Tatbestände erfüllen. Der II. Senat des BFH hat den Rechtsstand mit der Sentenz "Es gibt keine Erbschaft im wirtschaftlichen Sinn" prägnant zusammengefasst.
Beispiel:
Einem Vertragserben steht nach dem Tod des Erblassers ein Anspruch aus § 2287 Abs. 1 BGB aufgrund beeinträchtigender Schenkungen gegen den Beschenkten zu. Die Bereicherung durch den Anspruch erfüllt jedoch nicht den Tatbestand des § 3 Abs. 1 Nr. 1 Var. 1 ErbStG. Der Anspruch aus § 2287 Abs. 1 BGB wird nämlich nicht Teil des Nachlasses, sondern steht dem Testamentserben originär zu. Der Erwerb erfolgt daher nicht "durch Erbanfall", sondern lediglich aufgrund eines Erbfalls. Seit 1992 erfüllen solche Erwerbe jedoch den Tatbestand des § 3 Abs. 2 Nr. 7 ErbStG.
3. Wirtschaftliche Betrachtungsweise
Anders als es die Sentenz des II. Senats vermuten lässt, legt die Rechtsprechung § 3 ErbStG nicht immer konsequent zivilrechtsakzessorisch aus. Im Bereich der Erwerbe nach ausländischem Recht bestehen Abweichungen. Erwerbe vollziehen sich nach ausländischem Recht, wenn der gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers zum Zeitpunkt des Erbfalls im Ausland lag (Art. 21 Abs. 1 EU-ErbVO) oder der Erblasser sich für das Recht seines Angehörigkeitsstaats entschieden hat (Art. 22 Abs. 1 EU-ErbVO). Würde man § 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG streng zivilrechtsakzessorisch auslegen und auf Erwerbe nach deutschem Recht beschränken, dann würden die Vorschriften über die beschränkte persönliche Steuerpflicht in § 2 Abs. 2 Nr. 3 ErbStG weitgehend leerlaufen. Zahlreiche Erblasser könnten die deutsche Besteuerung durch die Wahl ausländischen Rechts sogar vermeiden (Art. 22 Abs. 1 EU-ErbVO). Nach der ständigen Rechtsprechung umfasst die Verweisung auf das deutsche Erbrecht jedoch auch ausländische Erwerbstatbestände, die dem deutschen Zivilrecht vergleichbar sind. Zur Feststellung der Vergleichbarkeit hat der BFH die "zweistufige Objektqualifikation" entwickelt. Erwerbe nach ausländischem Recht sind inländischen Erwerben vergleichbar, wenn das ausländische Rechtsinstitut einem der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG genannten Tatbestände entspricht. Ist dies nicht de...