Ein Erfahrungsbericht aus der Praxis
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Zum 1.1.2023 hat der Gesetzgeber das Betreuungsrecht (auch) hinsichtlich Vorsorgevollmacht novelliert. Nunmehr ist die sog. Wohlschranke gestrichen und die Willensbefolgungspflicht oberstes Gebot. Die Konsequenzen sind fatal. Der Beitrag befasst sich mit Rechtslücken im neuen Betreuungsrecht.
I. Vorbemerkungen
Bezüglich Vorsorgevollmachten erscheinen zwei Ansichten unverrückbar: Zum einen, dass die Vorsorgevollmacht ein bewährtes Konzept sei, welches keiner Nachbesserung mehr bedürfe, und zum anderen, dass etwaige Missbrauchsfälle allein medial verbreitet seien und ungerechtfertigt sowie überhöht in den Fokus gerückt würden. In diesem Sinne werden Empfehlungen von Experten wiederholt ausgesprochen, wie jüngst in der FamRZ:
Zitat
"Der Gesetzgeber sollte dies jedoch nicht überbewerten, da der ganz überwiegende Anteil erteilter Vorsorgevollmachten reibungslos "funktioniert", ohne dass dies überhaupt nennenswert an die Öffentlichkeit dringen würde. Die Gestaltungs- und Beratungspraxis sorgt sich daher auch nicht so sehr um eine (wohlgemerkt: nicht feststellbare) überproportionale Zunahme von Missbrauchsfällen, sondern umgekehrt mehr um eine auch den Interessen des Bevollmächtigten gerecht werdende Ausgestaltung des Grundverhältnisses der Vorsorgevollmacht."
Für den Praktiker bleibt völlig unklar, woher diese Erkenntnisse stammen und womit sie begründet werden könnten. Mir jedenfalls ist keine einzige Studie bekannt, die sich dieser Frage widmet. Der Umstand, dass die Rechtsprechung bspw. die Auskunfts- und Rechenschaftspflichten soweit ausdehnt,
Zitat
"[…] dass zu befürchten steht, dass sich ohne eine maßvolle Begrenzung der Pflichten des Bevollmächtigten […] bald kein Angehöriger mehr finden wird, der bereit ist, die zeitintensive und verantwortungsvolle Tätigkeit […] auszuüben"
gibt offenbar auch nicht zu denken.
Warum führe ich dies aus?
Weil es die steten, ungeprüft wiederholten, abgenutzten und letztlich unzutreffenden Argumente sind, die jeglichen Nachbesserungsansatz im Keime ersticken. Dass ein Missbrauch nicht feststellbar und deshalb nicht existent sei, wird dabei als augenscheinlicher Beweis angeführt. Sollte dennoch ein solcher Fall eintreten, lägen genügend Instrumente auf dem Tisch, diesen einzudämmen und zu sanktionieren.
Ich kenne etliche, die hier vehement widersprechen würden; darunter solvente Personen mit ausgewiesenem juristischem Sachverstand; also hinreichend gerüstet, derartige Sachverhalte auf dem zivil- und strafrechtlichen Wege einer sachgerechten Klärung zuzuführen; die aber dennoch scheiterten und sich deshalb an die Polizei wandten. Im Verlauf vieler Gespräche, Vorträge, Interviews und schriftlichen Ausführungen wurde insbesondere deutlich, dass allein der konkrete Fall die Zuhörer bzw. Leser zum Nach- und Umdenken führt. Deshalb soll ein solcher Fall hier vorgestellt werden.
II. Einführung in ein Anwendungsproblem gesetzlicher Regelungen
Gesetzliche Regelungen sollten ihre Wirksamkeit mit geringstmöglichem Eingriff in unser aller Leben entfalten können und dabei gleichzeitig so leicht wie möglich in der Anwendung sein. Und natürlich sollten sie das regeln, wofür sie geschaffen wurden. Das gilt insbesondere für Regelungen, die so tief in das Leben eines Menschen eingreifen, wie es im Betreuungsfall notwendig wird. Denn hier geht es um alles, was uns direkt betrifft: Familie, Vermögen, Wohnen, persönliche Freiheit, individuelle Entfaltung, freier Wille, Selbstbestimmung. Im nachfolgenden Fall haben die Betroffenen (Vollmachtgeber und Vollmachtnehmer) die gesetzlichen Rahmenbedingungen bestmöglich angewendet und wurden dennoch Opfer eines Vollmachtmissbrauchs. Ich werde aufzeigen, dass der gesetzliche Rahmen selbst bei bester Nutzung aller Möglichkeiten einen wirksamen Schutz nicht gewährleistet. Dies ist der erste von zwei Beiträgen zu dieser Problematik. Hier sollen anhand eines Beispiels aus der Praxis die Schwierigkeiten beleuchtet werden. Im zweiten Teil wird auf die juristischen Probleme tiefer eingegangen.
III. Ein typischer Fall
1. Die Vorsorge
Ein alter Mann, nennen wir ihn Friedhelm, war (anders als sein Name vermuten lässt), in seinem aktiven Leben durch Willenskraft und Durchsetzungsvermögen sehr erfolgreich. Er wusste Bescheid, konnte den Wechselfällen des Lebens wirkungsvoll entgegentreten und sie in seinem Sinne zufriedenstellend lösen. Auch ein erfolgreicher und sehr vermögender Mann wird alt, gebrechlich, abhängig von anderen.
Nun ist "Not am Mann" und Hilfe unabdingbar. Aufgeklärt und gut beraten lässt Friedhelm eine große Vollmacht – die Generalvollmacht – notariell beurkunden. Bevollmächtig sind der langjährige Freund sowie die Tochter, die auch die Mutter schon gepflegt hat. Der Notar kennt die ...