Der geschiedene Erblasser hinterlässt seine kinderlosen Söhne S1 und S2, die er zu Miterben zu je 1/2 eingesetzt hat, ohne Ersatzerben zu benennen. S1 ist zudem mit einem Vermächtnis in Höhe von 25.000,00 EUR zugunsten S2 beschwert. Der Nachlass beläuft sich auf 60.000,00 EUR. Sechs Monate vor seinem Tod hat der Erblasser seiner Lebensgefährtin 40.000,00 EUR schenkweise zugewandt.
1.1 Ausschlagung
S1 macht von seinem Recht gemäß § 2306 Abs. 1 S. 2 BGB Gebrauch und schlägt die Erbschaft aus.
1.1.1 Ordentlicher Pflichtteil
Der Pflichtteilsanspruch von S1 beläuft sich auf 1/4 (§§ 1924 Abs. 1, Abs. 4, 2303 BGB).
Nach erklärter Ausschlagung kann S1 seinen vollen (ordentlichen) Pflichtteil verlangen, also 15.000,00 EUR (60.000,00 EUR : 4), ohne das Vermächtnis bedienen zu müssen.
1.1.2 Ergänzungspflichtteil
Wegen der Schenkung an die Lebensgefährtin stünde S1 ferner der selbstständige Pflichtteilsergänzungsanspruch gemäß § 2325 Abs. 1 BGB zu. Als Pflichtteilsergänzung kann S1 den Betrag beanspruchen, um den sich sein Pflichtteil erhöht, wenn der geschenkte Gegenstand dem Nachlass hinzugerechnet wird.
Der reale Nachlass beträgt 60.000,00 EUR. Vom fiktiven Nachlass in Höhe von 100.000,00 EUR steht S1 die Hälfte seines gesetzlichen Erbteils zu, also 1/4, das sind 25.000,00 EUR. Von diesem Gesamtpflichtteil ist der ordentliche Pflichtteil (15.000,00 EUR) in Abzug zu bringen, sodass ein Ergänzungspflichtteil von 10.000,00 EUR verbleibt.
Der Anspruch richtet sich primär gegen den Erben, nicht unmittelbar gegen den Beschenkten (§§ 2328, 2329 BGB). Dessen Haftung setzt erst da ein, wo die des Erben aufhört. Schuldner ist demnach grundsätzlich S2, der mangels Ersatzerbenberufung Alleinerbe des Erblassers geworden ist (§§ 1953 Abs. 2, 1924 Abs. 1 BGB).
1.1.3 Zwischenergebnis
S2 erhält den Nachlass in Höhe von 60.000,00 EUR und muss hieraus den ordentlichen Pflichtteil des S1 begleichen; es verbleiben 45.000,00 EUR. Nach Abzug des Pflichtteilsergänzungsanspruchs ergibt sich für S2 eine wirtschaftliche Nachlassbeteiligung von 35.000,00 EUR. Sein eigener Gesamtpflichtteil (ordentlicher Pflichtteil und Ergänzungspflichtteil) von 25.000,00 EUR wäre gewahrt. Die beschenkte Lebensgefährtin müsste nichts zahlen (§§ 2328, 2329 Abs. 1 S. 1 BGB).
1.2 Annahme
S1 hat nicht ausgeschlagen, aus welchem Grunde auch immer. Welche wirtschaftliche Nachlassbeteiligung steht ihm nunmehr zu?
1.2.1 Die allgemeinen Rechtsfolgen der Annahme
Nimmt der Pflichtteilsberechtigte das ihm Hinterlassene an, bleibt er Erbe mit allen sich daraus ergebenden Beschränkungen und Beschwerungen, die in vollem Umfang bestehen bleiben, er hat keinen Anspruch darauf, dass ihm etwas aus der Erbschaft verbleibt. Nimmt er die Hinterlassenschaft an, entfällt sein Pflichtteilsanspruch auch dann, wenn er infolge der Belastungen weniger als den Wert des Pflichtteils erhält.
Daraus folgt für den Ausgangsfall: S1 und S2 werden Miterben zu je 1/2. Das Vorausvermächtnis als Nachlassverbindlichkeit ist vorab von dem zu verteilenden Nachlass in Abzug zu bringen und führt demnach zu einer Minderung des Nachlasses insgesamt: Von dem tatsächlichen Nachlass verbleiben 35.000,00 EUR. Diese stehen S1 und S2 je zur Hälfte zu. S1 erhält insgesamt 17.500,00 EUR, S2 42.500,00 EUR.
Das bedeutet weiter, dass S1 trotz des ihn beschwerenden Vermächtnisses 2.500,00 EUR mehr erhält, als ihm sein ordentlicher Pflichtteil eingebracht hätte.
1.2.2 Pflichtteilsergänzung
Nun ist allerdings der Pflichtteilsergänzungsanspruch zu berücksichtigen. Da S2 einschließlich des ihm zugewandten Vermächtnisses bereits 42.500,00 EUR erhalten hat, kann er nichts mehr fordern. § 2326 S. 2 BGB erfasst neben der Erbeinsetzung des Pflichtteilsberechtigten auch Zuwendungen an diesen durch Vermächtnisse.
Gänzlich anders gestaltet sich die Situation für S1. Er erhält tatsächlich nur 17.500,00 EUR und damit weniger als seinen Gesamtpflichtteil. Es fehlen 7.500,00 EUR. S1 fragt sich, ob und gegebenenfalls von wem er den Fehlbetrag fordern kann.
1.2.2.1 § 2318 BGB als Lösung?
Man könnte § 2318 BGB zurate ziehen. Die Norm regelt, wie die Pflichtteilslast, die grundsätzlich die Erben trifft, auf die anderen Nachlassbeteiligten zu verteilen ist, also beispielsweise auf Miterben, Vermächtnisnehmer oder Auflagenbegünstigte. Vorliegend geht es zwar um einen Pflichtteilsanspruch und auch um ein Vermächtnis, trotzdem hilft die Vorschrift nicht weiter.
§ 2318 Abs. 1 BGB gibt dem Erben eine Einrede, durch die er eine Kürzung der ihn treffenden Pflichtteilslast erreichen kann, die von den weiteren Nachlassbeteiligten entsprechend ihrem Beteiligungsverhä...