Leitsatz
1. Zur Auslegung eines von Ehegatten abgeschlossenen Erbvertrags, bei denen die jeweiligen Kinder der Ehegatten als Schlusserben eingesetzt sind. (sog. "Patch-work-Familie").
2. Bei Wegfall eines der Schlusserben stellt sich die Frage einer vertragsmäßigen Bindung des überlebenden Ehegatten betreffend diesen Erbteil infolge Anwachsung zugunsten der übrigen Schlusserben erst, sofern kein Wille der Ehegatten in Bezug auf eine erneute Testierung des überlebenden Ehegatten infolge des Wegfalls des Schlusserben im Wege der individuellen Auslegung festgestellt werden kann.
OLG München, Beschl. v. 5.11.2020 – 31 Wx 415/17
1 Tatbestand
I.
Die Erblasserin und ihr vorverstorbener Ehemann schlossen am 24.10.1979 einen Ehe- und Erbvertrag, der in Ziffer. IV ("Erbvertrag") auszugsweise wie folgt lautet:
"In erbvertragsmäßiger Form, d.h. in einseitig unwiderruflicher Weise, treffen die Vertragsteile folgende gemeinsame Verfügung von Todeswegen:"
1) Die Eheleute (…) setzen sich hiermit gegenseitig zu Alleinerben ein, ohne Rücksicht darauf, ob und wieviele Pflichtteilsberechtigte vorhanden sind.
2) Für den Fall des Todes des Längstlebenden von Ihnen und/oder für den Fall ihres gleichzeitigen Ablebens bestimmen sie zu Erben zu gleichen Anteilen
a) Die Tochter der Ehefrau (…)
b) Die Tochter des Ehemannes aus zweiter Ehe (= Beteiligte zu 2)
c) Die Tochter des Ehemannes aus zweiter Ehe (= Beteiligte zu 1).
Ersatzerben werden heute nicht bestimmt. (… .)
3) (…)
4) Sollte einer der eingesetzten Erben beim Tode des erstversterbenden Teils der Eheleute (…) seinen Pflichtteil geltend machen, so wird er nach dem Tode des Längstlebenden der Eheleute (…) nicht Erbe. In diesem Falle werden Erbe zu gleichen Anteilen die übrigen eingesetzten Erben (…)“
Die Tochter der Ehefrau ist ohne Hinterlassung von Abkömmlingen vorverstorben.
Die Erblasserin hat mehrere notarielle Testamente errichtet. In dem letzterrichteten (11.5.2009) hat sie den Beteiligten zu 3 zu ihrem Alleinerben bestimmt.
Die Beteiligten zu 1 und 2 beantragten am 11.8.2016 vor dem Nachlassgericht einen Erbschein, der eine Erbquote zu ihren Gunsten von je ½ ausweist. Dem ist der Beteiligte zu 3 entgegengetreten, da nach seiner Auffassung die Beteiligten zu 1 und 2 den Pflichtteil nach dem Ableben ihres Vaters zu Lebzeiten der Erblasserin geltend gemacht haben.
Mit Beschl. v. 5.9.2017 hat das Nachlassgericht die Tatsachen für die Feststellung des beantragten Erbscheins für festgestellt erachtet. Das Nachlassgericht ist dabei zu dem Ergebnis gelangt, dass nach den durchgeführten Ermittlungen nicht nachgewiesen ist, dass die Beteiligten zu 1 und 2 nach dem Ableben ihres Vaters den Pflichtteil geltend gemacht haben. Infolge des Wegfalls der Tochter der Erblasserin sei es in Bezug deren Erbteils zur Anwachsung zugunsten der Beteiligten zu 1 und 2 gekommen. Im Hinblick auf die Vertragsmäßigkeit der in dem Erbvertrag getroffenen Verfügungen, habe die Erblasserin diese nicht durch nachfolgende letztwillige Verfügungen abändern können. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Beteiligten zu 3.
2 Gründe
II.
Die zulässige Beschwerde hat bereits deswegen in der Sache Erfolg, da – ungeachtet der zwischen den Beteiligten strittigen Frage, ob ein Pflichtteilverlangen der Beteiligten zu 1 und 2 gegeben ist – der von den Beteiligten zu 1 und 2 erstrebte Erbschein (Miterbinnen von jeweils ½) nicht die materielle Erbfolge abbildet.
1. Der Senat teilt nicht die Auffassung des Nachlassgerichts, dass die Erblasserin die in dem Erbvertrag getroffenen Erbeinsetzung im Hinblick auf § 2289 Abs. 1 S. 2 BGB deswegen nicht mehr abändern konnte, da der Erbteil der bedachten Tochter der Erblasserin, die infolge Vorversterbens weggefallen ist, den Beteiligten zu 1 und 2 angewachsen ist und diese Anwachsung von der Bindungswirkung im Sinne der § 2278 BGB i.V.m. § 2289 Abs. 1 S. 2 BGB erfasst wird.
a) Es erscheint bereits fraglich, ob die nach § 2094 BGB eintretende Anwachsung eines Erbteils infolge Wegfalls eines Bedachten überhaupt eine vertragsmäßige Verfügung im Sinne des § 2278 Abs. 2 BGB darstellt.
aa) § 2278 Abs. 1 BGB setzt in Bezug auf die Vertragsmäßigkeit deren Anordnung durch die Ehegatten voraus, wobei diese auf die in § 2278 Abs. 2 enumerativ aufgezählten Verfügungen beschränkt ist. Demgegenüber tritt die Anwachsung als dispositive Ergänzungsnorm (BeckOGK/Gierl, BGB § 2094 Rn 2) kraft Gesetzes ein. Im Hinblick darauf stellt die Anwachsung nach Auffassung des Senats gerade keine Verfügung im Sinne des § 2278 BGB dar. Soweit dies im Falle einer Pflichtteilsklausel vertreten wird (vgl. BayObLG, ZEV 2004, 202 m. Anm. Ivo), findet diese Auffassung ihre Rechtfertigung im Kern darin, dass die Ehegatten ihre Erbfolge durch die Erbeinsetzung abschließend getroffen haben und die Pflichtteilsklausel bei ihrem Eingreifen als Teil des Willens der Ehegatten die bereits getroffene Erbfolge modifiziert und sich diese Erbfolge somit auf einer letztwilligen Verfügung der Ehegatten beruht. Die Regelung in der Pflichtteilsklausel ist somit Teil der Erbeinsetzun...