Ausgangspunkt ist ein handschriftliches Ehegattentestament folgenden Inhalts:
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"Wir setzen uns gegenseitig zu alleinigen Erben ein. Der Erstversterbende vermacht dem überlebenden Ehegatten an seinem gesamten Nachlaß den Nießbrauch auf Lebenszeit. Der einzige Erbe nach dem Längstlebenden von uns ist unser Sohn X. Das Haus und Guthabenbeträge auf der Bank und Sparkonten vorweg erhalten soll." (sic.)
Beim Nachlassgericht gingen am 1.9. und am 8.9. Erbscheinsanträge ein. Der frühere Erbscheinsantrag der Ehefrau zielte auf Feststellung von Alleinerbfolge derselben. Der spätere Erbscheinsantrag des Sohns zielte laut Sachverhaltswiedergabe darauf, ihn als Erben
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"bezüglich des Hauses und der Guthabenbeträge bei der Bank und auf dem Sparkonto"
auszuweisen. Das Nachlassgericht informierte am 7.11. Ehefrau und Sohn über die widersprechenden Erbscheinsanträge. Anschließend einigten sich die beiden intern dahingehend, dass der Erbscheinsantrag des Sohns gelten soll und teilten dies dem Nachlassgericht am 17.11. mit.
Das Nachlassgericht erließ am 2.1. des Folgejahres einen Beschluss, nach welchem, im Hinblick auf den ersten Erbscheinsantrag der Ehefrau, die für die Erteilung eines Erbscheins erforderlichen Tatsachen für festgestellt erachtet sind und setzte gleichzeitig die Wirksamkeit des Beschlusses aus, da der Erbscheinsantrag dem Testamentsauslegungsergebnis des Nachlassgerichts widerspricht.
Nachdem keine Beschwerde einging, erließ das Nachlassgericht am 16.2. einen gemeinschaftlichen Erbschein, wonach der Erblasser durch Ehefrau und Sohn gemeinschaftlich beerbt worden ist. Erläuternd wurde im Erbschein festgehalten, dass die Ehefrau
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"den gesamten Nachlass des Erblassers beerbt, mit Ausnahme des Anteils des Erblassers hinsichtlich des Grundbesitzes sowie der Guthabenbeträge auf der Bank."
Das Grundbuchamt bat um Einziehung des falschen Erbscheins. Das Nachlassgericht, vertreten durch die gleiche Nachlassrichterin (auf Probe), zog den Erbschein ein und erließ am 28.4. einen neuen Erbschein, wonach Ehefrau und Sohn Erben je zur Hälfte sind.
Nach Beschwerde des Sohns, der die Weitergeltung des ersten Erbscheins wünschte, wurde auch der zweite Erbschein, diesmal durch einen anderen Richter (auf Probe), eingezogen und das Verfahren dem OLG vorgelegt.
Der Sachverhalt ist, wie eingangs geschrieben, nicht OLG würdig. Er ist deshalb nicht OLG würdig, da er materiell grundsätzlich nicht falsch oder richtig gelöst werden kann. Wäre es ein Sachverhalt in einer juristischen Klausur, müsste man den Studierenden bei nahezu jeder Lösung, mit Ausnahme der hier vom Nachlassgericht gefundenen Lösung(en), eine vertretbare Bewältigung der Klausur attestieren.
Das handschriftliche Testament ist inkohärent. Dies ist für handschriftliche Testamente nichts Ungewöhnliches. Insofern ist dem OLG in seiner Kritik zuzugestehen, dass es möglicherweise an Praxiserfahrungen fehlt, um damit umzugehen. Im Ansatz richtig, ist das Nachlassgericht davon ausgegangen, dass das Testament einer Auslegung bedarf.
Eine Auslegung des vorliegenden, lediglich aus vier Sätzen bestehenden Testaments kann, nach der hier vertretenen Ansicht, zu folgenden Ergebnissen führen:
- Die Ehefrau ist Alleinerbin. Der Sohn hat Vermächtnisansprüche bzgl. Bankguthaben und Haushälfte und ist Schlusserbe.
- Der Sohn ist Alleinerbe. Die Ehefrau hat einen Vermächtnisanspruch bzgl. der Einräumung des Nießbrauchs am Nachlass.
- Die Ehefrau ist Vorerbin (befreit oder nicht befreit) und der Sohn ist Nacherbe, ggf. mit Vermächtnisansprüchen.
Je nach Zusammensetzung des Nachlasses wäre auch eine gemeinsame Erbeinsetzung (mit zu bestimmenden Quoten) denkbar, falls es neben dem erwähnten Haus und den "Guthabenbeträgen auf der Bank und Sparkonten" noch signifikanten weiteren Grundbesitz oder sonstige nicht erwähnte Vermögensgüter (z.B. werthaltige Gesellschaftsbeteiligungen, umfangreiche Bargeldbestände, Edelmetalle, Kunstwerke, Oldtimer etc.) gibt, wofür allerdings der geschilderte Sachverhalt keine Indizien enthält, weshalb diese Lösung hier nicht weiterverfolgt werden soll.
In Anbetracht der widersprüchlichen Formulierungen im Testament bringt die Auslegung anhand des Wortlauts desselben kein zufriedenstellendes Ergebnis. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass juristischen Laien die Bedeutung der Worte "vermacht" oder "Nießbrauch" nicht offenbar sind.
Für das Ergebnis 1. – Alleinerbfolge der Ehefrau – sprechen die Sätze 1 und 3 des gemeinschaftlichen Testaments. Isoliert betrachtet wäre es ein klassisches sog. "Berliner Testament". Zu ergründen wäre, ob hier eine Einheitslösung in Form einer Allein- und Schlusserbeinsetzung mit verschmelzenden Vermögensmassen oder eine Trennungslösung in Form einer Vor- und Nacherbfolge mit getrennten Vermögensmassen gewollt waren (vgl. Ausführungen zu Ergebnis 3).
Der zweite Satz zum Nießbrauch spricht nicht zwingend gegen das Ergebnis 1. Wie bereits ausgeführt ist den Beteiligten die Bedeutung der juristischen Fachtermini teilweise unbekannt. Denkbar...