1. Diskutiert wird das Abgrenzungsproblem als bloße Pflichtteilsverweisung oder Vermächtnisanordnung. Hat der Erblasser den Pflichtteilsberechtigten neben dem ungekürzten Pflichtteil mit einem Vermächtnis bedacht, so liegt nach überwiegender Ansicht im Anschluss an RGZ 129, 239, 241 in der Zuwendung des Pflichtteils kein Verweis auf die Pflichtteilsvorschriften, sondern eine gewährende Verfügung, die in der Regel ebenfalls ein Vermächtnis ist, ausnahmsweise und entgegen der Auslegungsregel des § 2304 BGB aber auch eine Erbeinsetzung sein kann. Nach RGZ 129, 241, hängt die Auslegung entscheidend davon ab, "ob der Erblasser den Pflichtteilsberechtigten nicht nur nach dem Wortlaut, sondern auch nach dem Sinne seiner Verfügung etwas zuwenden oder ihn lediglich von allem ausschließen wollte, worauf er keinen unentziehbaren gesetzlichen Anspruch habe". In dem dort entschiedenen Fall hatte der Erblasser, ein Landrichter, seiner Ehefrau nicht nur den ihr gebührenden Pflichtteil, sondern auch noch ein Vermächtnis in Höhe des gleichen Betrags zugewendet. Da der Erblasser seine Ehefrau auf den doppelten Pflichtteilsbetrag eingesetzt hatte, hat das Reichsgericht wegen des gewährenden Charakters der Zuwendung insgesamt ein Vermächtnis angenommen. Dem sind Rechtsprechung und weitgehend auch die Literatur gefolgt. Die Auffassung, wonach die Abgrenzung danach vorzunehmen sei, ob der Erblasser dem Bedachten etwas gewähren oder ihn beschränken wollte, ist vereinzelt auf Kritik gestoßen. Wer nämlich bei einem gewährenden Willen des Erblassers ein Vermächtnis oder bei einem beschränkenden Willen eine Pflichtteilsverweisung annehme, beachte nicht, dass die Rechtsfolgen einer Vermächtnisanordnung für den Pflichtteilsberechtigten oft ungünstiger seien als die einer Pflichtteilsverweisung. Eine Vermächtnisanordnung solle deshalb im Falle einer Pflichtteilszuwendung nur angenommen werden, wenn der Erblasser erkennbar die Anwendung pflichtteilsrechtlicher Grundsätze ganz oder teilweise habe vermeiden wollen. Lange weist jedoch jetzt darauf hin, dass das Problem dieser Meinung in der Feststellung liege, ob der Erblasser den Ausschluss pflichtteilsrechtlicher Grundsätze gewollt hat oder nicht. Ist der Erblasser rechtskundig beraten oder selbst rechtskundig wie im Fall RGZ 129, 239, wird man in der Verwendung des Begriffs "Vermächtnis" keine bloße Pflichtteilsverweisung sehen können. In allen anderen Fällen ist aber stets zu prüfen, ob überhaupt eine Vermächtnisanordnung vorliegt.
2. Warum der Erblasser ein Vermächtnis nicht neben dem Pflichtteil anordnen können soll, ohne dass er Pflichtteil und Vermächtnis insgesamt als Vermächtnis behandelt wissen will, ist nach dem Sinn und Zweck des § 2307 BGB nicht einsichtig. § 2307 BGB soll mit der Einräumung eines unbeschränkten Wahlrechts zwischen Vermächtnis und Pflichtteil verhindern, dass der Erblasser einem Pflichtteilsberechtigten wider Willen ein Vermächtnis anstelle des Pflichtteils aufdrängt oder der Pflichtteilsberechtigte auf einen wertmäßig zweifelhaften Gegenstand verwiesen wird. Diese Gefahr besteht gerade in Fällen wie dem vorliegenden nicht, wenn das Vermächtnis nicht anstelle, sondern neben dem Pflichtteilsanspruch zugewendet wird. Während bei einem Vermächtnis anstelle des Pflichtteils ein einheitlicher Verfügungsgegenstand vorliegt und damit die Erfüllung des gesetzlichen Pflichtteils oder der Verzicht hierauf ohne Weiteres zum Erlöschen des Pflichtteilsvermächtnisses führt, stehen beide Ansprüche in einem selbstständigen und kumulativen Verhältnis zueinander, wenn der Bedachte wie im vorliegenden Fall das Vermächtnis und zusätzlich den ungekürzten Pflichtteil erhält.
Der eine Anspruch soll nach dem Willen des Erblassers den anderen nicht verdrängen. Es soll vielmehr der Bedachte einen weiteren selbstständigen Anspruch erhalten. Mithin erlischt der eine Anspruch nicht, wenn der andere erfüllt oder auf ihn verzichtet wird.
Nicht nur, dass aus Sinn und Zweck des § 2307 Abs. 1 BGB keineswegs folgt, dass der Erblasser ein Vermächtnis nicht neben dem Pflichtteil anordnen können soll, § 2307 Abs. 1 BGB geht vielmehr gerade von einem selbstständigen Pflichtteil neben einem Vermächtnis aus. Gewollt ist bei einer kumulativen Anordnung, dass das Vermächtnis auf den Pflichtteil nicht angerechnet wird (Satz 2), der Pflichtteil also nicht als Restpflichtteil, sondern voll erhalten bleibt und das Vermächtnis nicht ausgeschlagen werden muss, um den vollen Pflichtteil zu erhalten (Satz 1). Der Charakter des Pflichtteils ändert sich nicht durch die Größe des Vermächtnisses, das auf den Pflichtteil angerechnet oder wie im vorliegenden Fall entgegen § 2307 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht angerechnet wird. Wie groß auch immer der Pflichtteil ist, ein ungekürzter oder ein bloßer Restpflichtteil, er ist und bleibt ein Pflichtteil kumulativ neben dem Vermächtnis. Der Berechtigte verliert nur seinen Pflichtteilsanspruch, soweit der Wert des angenommenen Vermächtnisses reicht. Das ange...