Bei ihrem konzeptionellen Verzicht auf Form- bzw. Wirksamkeitsvoraussetzungen folgt die Reform 2023 einem "Ja-aber-Prinzip". Kundige Menschen, die "an der Vorbereitung und Erarbeitung des Reformgesetzes aktiv beteiligt waren", lassen dieses "Ja-aber-Prinzip" deutlich werden:
Ja: "Zur Wirksamkeit einer Vorsorgevollmacht ist grundsätzlich weder eine öffentliche Beglaubigung noch eine notarielle Beurkundung erforderlich" – heißt es,
aber: wenn die Vollmacht z.B. unwiderruflich sein oder zu Grundstücksgeschäften ermächtigen soll, ist sie eben "nicht formfrei".
Demnach verhält es sich so, dass ein Reformgesetzgeber, der die vertragliche Betreuung vorrangig behandeln und das "Instrument privater Rechtsfürsorge … so niederschwellig wie möglich" ausgestalten will, dem Vollmachtgeber dabei ggf. Kenntnis der Grundbuchordnung bzw. der einschlägigen Rechtsprechung des BGH abverlangt.
Mag man dies noch als legislatorische Inkonsequenz abtun: Dass der Verzicht auf Form- und Wirksamkeitsvoraussetzungen tatsächlich weit mehr ist als nur ein "handwerklicher Fehler" und folgenschwer für die Betroffenen, zeigen folgende Überlegungen:
Anders als beurkundete und bei der Bundesnotarkammer registrierte Vollmachten bleiben formlose Betreuungsermächtigungen inhaltlich ungeprüft. Grundsätzlich schließen sie den Vollmachtgeber schon durch ihre bloße Existenz vom Schutz staatlicher Aufsicht über den Bevollmächtigten aus. Schutzlosigkeit z.B. in der Konstellation 1 wird nur vermieden, wenn ein betreuungsgerichtliches Verfahren anfängliche Geschäftsunfähigkeit des Vollmachtgebers und damit die Unwirksamkeit der Vollmacht positiv feststellt; bloße Zweifel sind hierfür nicht ausreichend.
Ein betreuungsgerichtliches Verfahren also – aber wie sollte es dazu in der Konstellation 1 überhaupt kommen? Durch einen Antrag des Betroffenen wohl kaum, daher allenfalls von Amts wegen, also nur, wenn dem Gericht von irgendwoher Anzeichen für eine ursprüngliche Geschäftsunfähigkeit des Vollmachtgebers zur Kenntnis kommen.
Nur: Welcher Außenstehende sollte Informationen über die – in der Vergangenheit liegenden – Umstände der Vollmachterteilung haben und adressieren (wollen)? Der ggf. dolose Vollmachtnehmer sicher nicht.
Immerhin: Gerichtskenntnis einmal unterstellt, würde – nach ergebnisloser Abfrage des Vorsorgeregisters – ein Sachverständigengutachten eingeholt werden. Der Sachverständige müsste feststellen, ob der Vollmachtgeber an einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit leidet und ob nach dem Verlauf der Erkrankung davon auszugehen ist, dass dieser Zustand schon bei Vollmachterteilung eingetreten war.
Die Situation ist dieselbe wie bei nachträglicher Feststellung einer Testierunfähigkeit. Ebenso wie dort müsste ermittelt werden (können), ob es dem Betroffenen im Zeitpunkt seiner Erklärung "noch möglich war, sich an Sachverhalte und Ereignisse zu erinnern, Informationen aufzunehmen, Zusammenhänge zu erfassen und eine Abwägung des Für und Wider sachgerecht vorzunehmen" oder ob "von einer freien Willensbildung deshalb nicht mehr gesprochen werden kann, weil etwa infolge der Geistesstörung die Einflüsse dritter Personen seinen Willen übermäßig beherrschen" (Konstellationen 2 und 3).
Der Sachverständige muss seinem Gutachten Forschungserkenntnisse, wie sie z.B. in der einschlägigen Praxisleitlinie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN) abgebildet sind, zugrunde legen. Hiernach sind "alle neurodegenerativen Demenzerkrankungen (Alzheimer-Demenz, frontotemporale Demenz, Parkinson-Demenz, Lewy-Körperchen-Demenz) progressive Erkrankungen mit Verläufen über mehrere Jahre." Die Diagnose ist höchst aufwendig und zudem kostenintensiv. Sie erfordert fachärztliche Untersuchungen, die internistische, neurologische und psychopathologische Befunde einschließen. Zwar stehen Testverfahren zu Verfügung. Jedoch setzt "die Interpretation der Testergebnisse neben genauer Kenntnis der angewendeten Verfahren theoretisches Wissen über kognitive Funktionen und die Anwendung und Interpretation von Normwerten" voraus. Bei alledem geht die DGPPN von einer nur "geringen positiven prädiktiven Wertigkeit der heute verfügbaren kognitiven Tests" aus; dementsprechend gering dürfte die retrospektive Aussagekraft sein.
Gerade hierauf kommt es jedoch an. Der Sachverständige muss entweder die progressive Erkrankung in ihrem Verlauf über mehrere Jahre bis zum Zeitpunkt der Vollmachtserteilung zurückverfolgen oder feststellen (können), "dass im konkreten Fall ausnahmsweise ein klarer, sog. lichter Augenblick des Erblassers (scil. Vollmachtgebers), in Betracht kommt." Zumindest bei einer altersbedingten Demenz vom Alzheimertyp sind die retrospektive Feststellung der Testier- bzw. Geschäftsfähigkeit günstigstenfalls "Tage bis einige Wochen vor dem Beginn des dokumentierten (!) Krankheitsabschnitts" möglich und die Feststel...