Die Beschlüsse des BGH und OLG Frankfurt/Main benannten beide Ausnahmefälle lediglich pauschal und brauchten in beiden Streitfällen nicht ins Detail zu gehen. Man konnte es bei Verweisen auf maßgebliches Schrifttum belassen, das wiederum Urteile des Reichsgerichts zwischen 1918 und 1922 heranzieht – und diese Urteile wiederum konnten noch gar nicht die Grundzüge der Rechtsprechung seit BGHZ 25, 275 berücksichtigen.
Wir müssen uns daher (in bewährter und wohlbekannter erbrechtlicher Manier) nicht nur mit dem Wortlaut, sondern vor allem mit dem Wortsinn der hier besprochenen Entscheidungen beschäftigen und wollen versuchen, "die Tragweite der ausgesprochenen Gedanken deutlich zu machen, sie klarer zu begrenzen." Konkret: sie mit der grundlegenden Rechtsprechung, den BGH-Urteilen der Jahre 1986 und 1987, sowie dem Sinn und Zweck des Gesetzes in Einklang zu bringen. "Denn im Zweifel muss davon ausgegangen werden, dass das Gericht, auch wenn die Begründung mangelhaft ist, folgerichtig gedacht, einen lückenlosen Gedankenzusammenhang angestrebt hat."
Von rechtlicher Mangelhaftigkeit kann bei beiden Beschlüssen nicht die Rede sein: Im Falle des OLG Frankfurt scheiterte der Begehr auf Unterhalt aus Nachlassmitteln an der mangelnden Darlegung durch den Kläger und beim BGH hatte die Begründung den Zweck, die Rechtslage "nur" dem Grunde nach darzustellen und so zutreffend begründen zu können, dass ein klassisches Behindertentestament ohne Anordnungen nach § 2216 Abs. 2 S. 1 BGB allein aus diesem Grund nicht sittenwidrig ist.
Daher ist die Verortung der von der Rechtsprechung nun anerkannten Fallgruppen im gesetzlichen System und im Sinn und Zweck der ordnungsgemäßen Dauervollstreckung nicht nur eine akademisch interessante Frage, sondern für die Arbeit und Haftung des Testamentsvollstreckers von hoher Bedeutung. Erst wenn für unsere Kernfrage zu System sowie Sinn und Zweck des Gesetzes (zumindest einigermaßen) Klarheit herrscht, ist es sinnvoll, sich mit Einzelheiten der beiden Fallgruppen zu befassen. Deshalb ist auch die Frage nach der zutreffenden rechtlichen Begründung für die beiden Fallgruppen von rechtlichem und praktischen Interesse: auch sie muss dem Sinn und Zweck des Gesetzes entsprechen, um die Arbeit des Testamentsvollstreckers rechts- und haftungssicher zu ermöglichen.
Bei der Beurteilung der "Tragweite" (Larenz) der beiden Beschlüsse und Fallgruppen Erbenunterhalt und nachlassbedingte Steuern des Erben wird man von vornherein im Auge haben müssen, dass der Erbenunterhalt seit jeher als strukturelles und Gerechtigkeitsproblem der Testamentsvollstreckung gesehen wurde, mit entsprechenden Korrekturbemühungen in Rechtsprechung und Schrifttum. Dies betrifft auch die Unterfallgruppe und Situation, sofern der Erbe nicht nur selbst bedürftig ist, sondern selbst unterhaltspflichtig gegenüber Dritten wird, die mit dem Nachlass rechtlich nichts zu tun haben; dies beschäftige schon das RG. Dagegen sind die nachlassbedingten Steuern als Rechtfertigung für eine Erlösherausgabe an den Erben die deutlich jüngere Fallgruppe.
Wir müssen also klären, wie weit die Präjudizwirkung der beiden Beschlüsse geht: Sind Erbenunterhalt und nachlassbedingte Steuern des Erben ein Anspruch im strengen Sinne oder "nur" dem Grunde nach als Situationen anerkannt, die das Ermessen des Testamentsvollstreckers bei der Frage Thesaurierung oder Erlösauskehr allenfalls einschränken?
Die Frage nach der Präjudizwirkung berührt unsere Kernfrage unmittelbar, ob und wie die Entscheidungshoheit des Testamentsvollstreckers bei § 2216 Abs. 1 BGB mit den Ansprüchen des Erben bei Vorliegen einer der beiden Fallgruppen in Einklang zu bringen ist. Erst dann kann man sich der Einzelheiten zu den Fallgruppen annehmen. Wir werden daher zuerst die Beschlüsse mit der ständigen BGH-Rechtsprechung inhaltlich abgleichen, sodann in Teil 2 die Systematik des Gesetzes und rechtlichen Begründungen für die beiden Fallgruppen näher betrachten und danach die bei den bisherigen Begründungsversuchen zitierten Entscheidungen des RG auf ihre Vereinbarkeit mit der Rechtsprechung seit BGHZ 25, 275 hin überprüfen. Nur dann herrscht Klarheit, inwieweit die Beschlüsse von BGH und OLG Frankfurt den weiteren Weg der Rechtsprechung präjudizieren.