1. Die Kernfrage nach der Ermessens- und Entscheidungshoheit des Testamentsvollstreckers
Unsere Kernfrage lautet: Hat der Dauervollstrecker nach den Beschlüssen von BGH und OLG Frankfurt noch die autonome und im Wege des Ermessens wahrzunehmende Entscheidungshoheit über den Nachlass, sofern der Erbe Erlöse/Nutzungen des Nachlasses beansprucht, weil der damit den eigenen Unterhalt, Unterhaltspflichten gegenüber Dritten oder nachlassbedingte Steuern bestreiten bzw. bezahlen will? Kann der Dauervollstrecker dieses Ansinnen, diesen "Anspruch", rechts- und regresssicher ablehnen mit der Begründung, dass diese zweckgebundene Zahlung aus dem Nachlass dennoch dessen ordnungsgemäßer Verwaltung widerspräche, § 2216 Abs. 1 BGB?
Auf den ersten Blick und wörtlich genommen scheinen BGH und OLG Frankfurt/Main eindeutig zu sein und dem Testamentsvollstrecker das Entscheidungs- und Ablehnungsrecht zu verwehren. Doch zeigt eine genauere rechtliche Betrachtung, dass die Dinge nicht so einfach sind: die Beschlüsse sind abzugleichen mit der gesetzlichen Systematik und einzufügen in die ständige Rechtsprechung des BGH. Denn die Beschlüsse verweisen auf die Urteile des BGH vom 4.11.1987 – IVa ZR 118/86 und vom 14.5.1986 – IVa ZR 100/84. Und diese wiederum fußen auf der Grundsatzentscheidung des BGH vom 2.10.1957, BGHZ 25, 275. Wir wollen uns unserer Frage daher zunächst über die bisherige Rechtsprechung des BGH nähern und dabei die älteste Fallgruppe im Auge behalten, die schon das Reichsgericht beschäftigte: Der bedürftige Erbe macht gegenüber dem Testamentsvollstrecker Unterhalt geltend und fordert dafür Erlöse aus dem Nachlass, der der Dauervollstreckung unterliegt.
2. Die Beschlüsse als Präjudizien? Ein erster kurzer Blick auf die Beschlüsse und die bisherige Rechtsprechung von BGH und RG
In den Urteilen vom 4.11.1987 und 14.5.1986 hat der BGH die grundsätzliche Thesaurierungsbefugnis des Testamentsvollstreckers festgeschrieben. Wir müssen uns also zunächst fragen, ob und wie die Formulierungen der beiden Beschlüsse mit dem (angeblichen) Anspruch des Erben auf Erlösauskehr z.B. für den eigenen Unterhalt zu diesen Urteilen passen – und dabei stets auch die Grundsatzentscheidung des BGH vom 2.10.1957 im Blick haben. Dies ist von zentraler Bedeutung, weil nur so über die Reichweite der beiden Beschlüsse Klarheit gewonnen werden kann: ob und inwieweit sie die künftige Rechtsprechung zu präjudizieren von Rechts wegen in der Lage sind.
Im Fall des OLG Frankfurt war die Frage der Rechtmäßigkeit der Thesaurierung Streitgegenstand. Das Gericht konnte den Fall anhand der Darlegungs- und Beweislast entscheiden und den Anspruch des Erben deshalb ablehnen (Rn 31). Die materiell-rechtliche Grundlage hierzu leitete das OLG ausführlich her (Rn 27-30) und bezieht sich bei seinen vorangehenden Ausführungen zum materiellen Recht zu Recht auf die Grundsätze der BGH-Urteile vom 14.5.1986 und 4.11.1987 (Rn 27). Das Gericht kommt dann am Ende dieser Ausführungen – und mit ihm nahezu das gesamte Schrifttum unter Berufung auf das RG – zu dem Ergebnis:
Zitat
"Ein Testamentsvollstrecker ist demnach außerhalb des Anwendungsbereiches des § 2338 Abs. 1 Satz 2 BGB grundsätzlich befugt, Erträge zu thesaurieren. Allerdings sind Nutzungen dann herauszugeben, soweit dies zur Bestreitung des angemessenen Unterhalts des oder der Erben sowie zur Begleichung fälliger Steuerschulden (Erbschaftssteuer) erforderlich ist. Wenn die Einkünfte des Nachlasses dazu ausreichen, hat der Testamentsvollstrecker dem oder den Erben auch die zur Erfüllung gesetzlicher Unterhaltspflichten notwendigen Mittel zu gewähren"
(Rn 30). Das OLG macht also die Einschränkung: "wenn die Einkünfte des Nachlasses dazu ausreichen" nur dann, wenn der Erbe selbst Unterhaltspflichten ausgesetzt ist. Sonst scheint es so zu sein, als habe der Erbe bei eigener Bedürftigkeit und Steuerlast einen Anspruch im klassischen Sinne.
Dieser "Anspruch" müsste sich somit aus den beiden grundlegenden BGH-Urteilen vom 14.5.1986 und 4.11.1987 und evtl. bereits aus den üblicherweise zitierten Urteilen des RG ergeben – zumindest aber muss dieser "Anspruch" mit den BGH-Urteilen vereinbar sein. Denn dass das Gericht von grundlegenden Aussagen des BGH abweichen wollte, ist nicht einmal in Ansätzen erkennbar.
Dies gilt auch für den Beschluss des BGH. Darin ging es um die Sittenwidrigkeit eines klassischen Behindertentestaments ohne Anordnungen nach § 2216 Abs. 2 S. 1 BGB. Der BGH lehnte dies ab, wobei die für uns wichtige Rechtsfrage zu den Ausnahmen Unterhalt und nachlassbedingte Steuern des Erben zwar als solche benannt wurde. Aber am Ende stützte sich die conclusio und Entscheidung der Rechtsfrage der Sittenwidrigkeit auf das systematische Verständnis zwischen den hier fehlenden Anordnungen nach § 2216 Abs. 2 S. 1 BGB und dem einschlägigen § 2216 Abs. 1 BGB, um die Sittenwidrigkeit zu Recht abzulehnen. Die hohe Hürde der Sittenwidrigkeit sei hier deshalb nicht erreicht, weil eine der beiden akzeptierten Fallgruppen, der Erbenunterhalt für den behinderten Menschen, vorliegen könnte und im Streitfall nicht ausgeschlossen sei, dass der Testamentsvollstrecker Erlöse nach § 2216 Abs. 1 BGB auskehren müsse.
Wir werden daher nach dem Wortsinn d...