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In Gesellschaften, in denen Blutsverwandtschaft und Familie als eine soziale Institution einen besonderen Stellenwert haben, kann das Erbrecht nicht unabhängig vom Familienrecht betrachtet werden. So ist die Frage der Enterbung eines der Beispiele, die diese enge Verbindung zwischen Familienrecht und Erbrecht offenbaren. Das Thema ist in der türkischen Lehre und Praxis ein nicht zu unterschätzender Streitgegenstand. Leider wird das Thema in Lehre und Rechtsprechung meistens in einer Weise behandelt, die den modernen Trend der "Stärkung der Testierfreiheit" ignoriert. In dieser Studie wird nur einer der Gründe zur Enterbung, die Frage der "Verletzung der Verpflichtungen aus dem Familienrecht" im Einklang mit den Entscheidungen des Kassationshofs (Yargıtay) behandelt werden. Dem Zeitgeist entsprechend soll auch die Tendenz zur Stärkung der Testierfreiheit, um eine Beschränkung des Pflichtteilsrechts zu erreichen, diskutiert werden.
I. Allgemeine Funktionen und Rechtsfolgen der’Enterbung
Die Enterbung ist eine Verfügung von Todes wegen mit einem negativen Inhalt, die das Pflichtteilsrecht des Erben ganz oder teilweise entfallen lässt. Im Gegensatz zum Begriff des Ausschlusses von der Erbfolge (exclusion), entfällt das Pflichtteilsrecht des Erben durch die Enterbung. Infolge dieser Verfügung, kann die frei verfügbare Quote des Erblassers in Höhe dieser Pflichtteilsquote erhöht werden. D.h., wenn der enterbte Erbe keine Abkömmlinge hat, wird sein Pflichtteil zu der verfügbaren Quote des Erblassers hinzugefügt.
Die Gründe zur Enterbung sind gesetzlich begrenzt und unterliegen strengen Restriktionen. Zwei Enterbungsgründe sind nach türkischem Erbrecht in Artikel 510 des türk. ZGB genannt. Danach darf das Pflichtteilsrecht des Erben entfallen:
- wenn der Erbe gegen den Erblasser oder gegen eine diesem naheverbundende Person eine schwere Straftat begangen hat;
- wenn der Erbe gegenüber dem Erblasser oder einem von dessen Angehörigen die ihm obliegenden familienrechtlichen schwer verletzt hat.
Die Enterbung hat zwei Hauptfunktionen. Die erste Hauptfunktion der Enterbung ist es, den oder die Erben des Erblassers zu bestrafen. Im Falle einer Gegebenheit, die die familiären Bindungen zwischen den Erben und dem Erblasser extrem beeinträchtigt oder sogar zu einem vollständigen Abbruch führt, besteht möglicherweise kein Interesse – insbesondere des Erblassers –, den Pflichtteil des Erben zu schützen. Mit anderen Worten: Die Enterbungsregelung ist ein Spiegelbild des Verhältnisses zwischen dem Erblasser und seinem oder ihrem Erben, welches bereits aufgrund bestimmter Verstöße beeinträchtigt ist. In dieser Hinsicht wird angeführt, dass die Enterbung gesetzlich geregelt ist, damit dem Erben der Pflichtteil nicht zugutekommt. Gerade die erste Hauptfunktion des Pflichtteilsrechtes besteht darin, die enge Beziehung zwischen dem Erblasser und den Erben zu schützen. Dies wird allgemein akzeptiert und es wird betont, dass diese Regelung berechtigt ist. Jedoch ist es eine unbestreitbare Tatsache, dass sich die Ansicht hinsichtlich des Pflichtteilsrechts im gesellschaftlichen Wandel befindet. Vermehrt wird die Testierfreiheit und die Stärkung des Willens des Erblassers als höherwertig betrachtet und damit das Pflichtteilsrecht geschwächt. Diese Tendenz entspricht dem Zeitgeist und ist auch ersichtlich in Betracht der Vorschläge zur Überwindung des Pflichtteils, die die Ausweitung der Enterbungsgründe anstreben.
Darüber hinaus hat die Enterbung eine zweite Funktion: Der Begriff der Enterbung, der in der türkischen Umgangssprache fälschlicherweise als "Verbannung eines Kindes (evlatlıktan red)“ ausgedrückt wird, wird als ein Unterdrückungsbeweis angesehen, mit dem der Erblasser auf den Erben einwirken kann."
Im Falle einer gültigen Verfügung von Todes wegen kann der’pflichtteilsberechtigte Erbe keine Erbteile erhalten und keinen Herabsetzungsanspruch einreichen (türk. ZGB Art. 511 Abs. 1). Sofern der Erblasser keine andere Verfügung erlassen hat, wird der Anteil auf die Abkömmlinge des Erben vererbt, so als ob dieser Erbe vor dem Erblasser gestorben wäre; ansonsten erhalten die gesetzlichen Erben des Erblassers den Nachlass (türk. ZGB Art. 511 Abs. 2). Basierend auf dieser Regelung wird abgeleitet, dass die Enterbung eine persönliche Auswirkung hat und sie die Erben der enterbten Personen nicht betrifft. Wenn der Erblasser (E) zum Beispiel seinen Sohn (A) enterbt, der wiederum einen eigenen Sohn (B) hat, erbt der Enkel (B) den Anteil seines Vaters (A). Sind umgekehrt aus dem Kreis der möglichen Erben des Erblassers (E) nur noch die Tochter (T), der Sohn (S) und die Mutter (M) am Leben und enterbt (E) seinen Sohn (S), so fällt der entsprechende Pflichtteil des (S) der Tochter (T) und der Mutter (M) zu.