Leitsatz
1. Wendet der Erblasser die Todesfallleistung aus einem Lebensversicherungsvertrag einem Dritten über ein widerrufliches Bezugsrecht schenkweise zu, so berechnet sich ein Pflichtteilsergänzungsanspruch gemäß § 2325 Abs. 1 BGB weder nach der Versicherungsleistung noch nach der Summe der vom Erblasser gezahlten Prämien (Aufgabe von BGHZ 7, 134; Senatsurteil vom 4. Februar 1976 – IV ZR 156/73 – FamRZ 1976, 616 unter 2; vgl. auch RGZ 128, 187).
2. Die Pflichtteilsergänzung richtet sich vielmehr allein nach dem Wert, den der Erblasser aus den Rechten seiner Lebensversicherung in der letzten – juristischen – Sekunde seines Lebens nach objektiven Kriterien für sein Vermögen hätte umsetzen können. In aller Regel ist dabei auf den Rückkaufswert abzustellen. Je nach Lage des Einzelfalls kann gegebenenfalls auch ein – objektiv belegter – höherer Veräußerungswert heranzuziehen sein.
BGH, Urteil vom 28. April 2010 – IV ZR 73/08
Sachverhalt
Beim Tod des Erblassers war sein Bruder, der Beklagte, als Alleinerbe und widerruflich als Bezugsberechtigter einer vom Erblasser auf sein eigenes Leben abgeschlossenen Lebensversicherung eingesetzt. Der Kläger, einziger Sohn des Erblassers, ist der Ansicht, sein – in Bezug auf die Bezugsberechtigung dem Grunde nach unstreitiger – Pflichtteilsergänzungsanspruch nach § 2325 Abs. 1 BGB sei aufgrundlage der vom Versicherer an den Beklagten ausgezahlten Todesfallleistung zu berechnen und nicht – wie der Beklagte meint – nach den gezahlten Prämien.
Aus den Gründen
Nach Ansicht des Berufungsgerichts (Berufungsurteil veröffentlicht in ZEV 2008, 292) ist Gegenstand der Schenkung des Erblassers an den Beklagten – und damit Berechnungsgrundlage des Pflichtteilsergänzungsanspruchs – nicht lediglich die Summe der gezahlten Prämien, sondern die gesamte ausgezahlte Versicherungsleistung. Im Urteil vom 23. Oktober 2003 (BGHZ 156, 350) habe der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs für das Insolvenzrecht entschieden, dass bei Insolvenz des Nachlasses nach erfolgter Anfechtung gemäß § 134 InsO die gesamte Versicherungsleistung – und nicht nur wie nach bisher herrschender Auffassung die Prämiensumme – zur Masse zurückgefordert werden könne, wenn der Erblasser einem Dritten unentgeltlich ein widerrufliches Bezugsrecht eingeräumt habe. Dies sei auf die Berechnung des Pflichtteilsergänzungsanspruchs übertragbar. Der Beklagte erwerbe als Bezugsberechtigter erstmalig mit dem Todesfall einen Anspruch, während der Erblasser bis zu diesem Zeitpunkt jederzeit anderweitig über die Versicherungsleistung hätte verfügen können. (...)
Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Wendet der Erblasser die Todesfallleistung aus einem von ihm auf sein eigenes Leben abgeschlossenen Lebensversicherungsvertrag einem Dritten über ein widerrufliches Bezugsrecht schenkweise zu, so berechnet sich ein Pflichtteilsergänzungsanspruch weder nach der Versicherungsleistung noch nach der Summe der vom Erblasser gezahlten Prämien. Es kommt vielmehr allein auf den Wert an, den der Erblasser aus den Rechten seiner Lebensversicherung in der letzten – juristischen – Sekunde seines Lebens nach objektiven Kriterien für sein Vermögen hätte umsetzen können. Der Senat hält an seiner bisherigen Rechtsprechung (vgl. BGHZ 7, 134; Senatsurteil vom 4. Februar 1976 – IV ZR 156/73 – FamRZ 1976, 616 unter 2), die auf die vom Erblasser gezahlten Prämien abstellt, nicht mehr fest. Die Änderung der Rechtsprechung des IX. Zivilsenats (BGHZ 156, 350) ist auf das Erbrecht nicht übertragbar. (...)
a) Der erkennende Senat ist bislang der Auffassung des Reichsgerichts (RGZ 128, 187) gefolgt, nach der auf die Summe der gezahlten Prämien abzustellen ist (BGHZ 7, 134; Senatsurteil vom 4. Februar 1976 aaO). Der XII. Zivilsenat hat sich dem angeschlossen (BGHZ 130, 377). Dies entsprach bis zur Entscheidung des IX. Zivilsenats vom 23. Oktober 2003 (aaO) auch der herrschenden Auffassung zum Insolvenzrecht, die nach einer Anfechtung gemäß § 134 InsO bei der Rückforderung zur Masse ebenfalls nur die Summe der vom Erblasser gezahlten Prämien, nicht dagegen die gesamte Versicherungsleistung berücksichtigte (vgl. die Nachweise in BGHZ 156, 350, 354). Im Anschluss an die genannte Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Insolvenzrecht haben einige Instanzgerichte eine entsprechende Anpassung für das Pflichtteilsergänzungsrecht für geboten erachtet (vgl. LG Göttingen NJW-RR 2008, 19; LG Paderborn FamRZ 2008, 1292).
Die rechtswissenschaftliche Literatur stimmt zu großen Teilen auch weiterhin der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu (vgl. Olshausen in Staudinger, BGB [2006] § 2325 Rn 38; Jagmann aaO [2004] § 330 Rn 53; Lange in MüKo-BGB 5. Aufl., § 2325 Rn 38; Birkenheier in JurisPraxisK BGB 4. Aufl., § 2325 Rn 70 aE; Bock in AnwK 2. Aufl., § 2325 Rn 17; Kasper sowie Andres in Münchener Anwaltshandbuch Erbrecht 2. Aufl., § 46 Rn 50 bzw. § 47 Rn 19; Leipold, Erbrecht 17. Aufl. Rn 581, Fn. 38; Ahrens ErbR 2008, 247; Blum ZEV 2008, 146; Joachim, Pflichtteilsrecht Rn 339; Frömgen, Das ...