Im Hinblick auf die aleatorische Natur des Pflichtteilsverzichts verneint eine Literaturauffassung die Sittenwidrigkeit des Verzichts eines Sozialleistungsempfängers. Ein anderer Teil der älteren Literatur hält den Verzicht jedenfalls dann für sittenwidrig, wenn der Verzichtende sowohl – mit Kenntnis des Erblassers – im Zeitpunkt des Rechtsgeschäfts als auch im Zeitpunkt des Erbfalls Sozialleistungen bezieht und nicht angemessen abgefunden wird. Zu folgen ist der ersten Ansicht. Der Pflichtteilsverzicht ist mangels Zielgenauigkeit regelmäßig kein geeignetes Mittel, um zulasten des Leistungsträgers zu handeln. Er kann dann auch nicht ausschließlich von dem Motiv getragen sein, etwa noch zu erwerbendes Vermögen dem Zugriff des Trägers von Sozialleistungen zu entziehen. Der Verzichtende kann im Normalfall nicht ausschließen, dass er die Folgen des Verzichts selbst spürt (Wagnischarakter). Für ihn ist in der Regel nicht vorhersehbar, ob er im Zeitpunkt des Erbfalls noch Sozialleistungen empfängt oder nicht mehr. Der Wagnischarakter des Pflichtteilsverzichts unterscheidet diesen entscheidend von der Ausschlagung einer werthaltigen Erbschaft durch einen Empfänger staatlicher Sozialleistungen. Letztere hat das OLG Hamm kürzlich für sittenwidrig erachtet. Eine andere Beurteilung ist allerdings ausnahmsweise dann angebracht, wenn das aleatorische Element vernachlässigenswert ist, etwa wenn der Erblasser im Sterben liegt oder der Verzichtende mit Sicherheit zeitlebens Sozialleistungen empfangen wird (kaum denkbar, weil er stets irgendwie – Lotto oder Heirat – zu Vermögen kommen kann). Verzichten die Kinder ihren Eltern gegenüber auf den Pflichtteil nach dem erstversterbenden Elternteil, um diesem das Familienwohnhaus oder das Familienunternehmen zu erhalten, spricht auch dieses billigenswerte Motiv gegen die Sittenwidrigkeit des Verzichts. ME ist der Pflichtteilsverzicht durch einen Empfänger von ALG II und damit einen Erwerbsfähigen, von dem durchaus erwartet werden kann, dass er in der Zukunft aus eigener Kraft seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten kann, ein Gestaltungsmittel, um den Zweifeln an der Vereinbarkeit sog. Bedürftigentestamente mit den guten Sitten (§ 138 BGB) aus dem Weg zu gehen.
Das OLG Köln hat die hier vertretene Auffassung jüngst in einem Urteil vom 9.12.2009 bestätigt. Eheleute – die Ehefrau schwer krebskrank – errichteten im November 2006 ein notarielles gemeinschaftliches Testament. Darin setzten sie sich gegenseitig zu Alleinerben des Erstversterbenden ein. Zu Schlusserben setzten sie ihre drei Kinder ein. Da eine Tochter jedoch lernbehindert war und schon seit 1992 von Sozialhilfe (§§ 53 ff, 19 Abs. 5 SGB XII) lebte, setzten die Eltern diese lediglich als nicht befreite Schluss-Vorerbin zu 17 % (ihre Pflichtteilsqote betrug 16,66 %) ein und unterwarfen sie der Dauertestamentsvollstreckung. Dass die Eheleute die behinderte Tochter abweichend von den beim Behindertentestament gängigen Gestaltungsmodellen nach dem erstversterbenden Elternteil enterbten, hatte folgenden Hintergrund: Im gleichen Beurkundungstermin und im Anschluss an die Testamentserrichtung verzichtete das behinderte, jedoch geschäftsfähige Kind – wie auch seine Geschwister – auf die Geltendmachung von Pflichtteilsansprüchen nach dem erstversterbenden Elternteil (§ 2346 Abs. 2 BGB). Die Mutter starb noch am selben Abend. Der Sozialhilfeträger nahm ihren Witwer aus übergeleitetem Recht (§ 93 Abs. 1 S. 1 SGB XII) im Wege der Stufenklage (§ 254 ZPO) auf Auskunft (§ 2314 Abs. 1 S. 1 BGB) und Zahlung des Pflichtteils (§ 2303 Abs. 1 S. 1 BGB) in Anspruch. Das OLG Köln hielt die Enterbung der Tochter nach dem erstversterbenden Elternteil durch das Behindertentestament für wirksam. Es konnte insbesondere keinen Verstoß gegen § 138 BGB erkennen. Das OLG Köln hielt auch den Pflichtteilsverzicht für wirksam. Insbesondere handele es nicht um einen unzulässigen Vertrag zulasten Dritter. Die Rechtsprechung zur Sittenwidrigkeit von Unterhaltverzichten unter Ehegatten zulasten der Sozialhilfe sei auf Pflichtteilsverzichtsverträge nicht übertragbar. Dies gelte selbst dann, wenn – wie vorliegend – der Verzichtende sowohl im Zeitpunkt der Vornahme des Rechtsgeschäfts als auch im Zeitpunkt des Erbfalls hilfebedürftig ist und dies den Vertragsbeteiligten bekannt ist. Wesentlicher Unterschied zwischen einem Unterhaltsverzicht und dem Verzicht auf den Pflichtteil ist danach, dass der Pflichtteil eine lediglich mehr oder weniger ungesicherte Erwerbschance ist. Demgegenüber ist der Unterhalt des Ehegatten ein subjektives Recht (§§ 1570 ff BGB). Dass im vorliegenden Falle die Mutter schwer erkrankt war und noch am selben Abend unter Hinterlassung von Grundbesitz gestorben ist, stehe dieser Einschätzung nicht entgegen. Aus Gründen der Rechtssicherheit sei vielmehr eine abstrakt-generelle Betrachtung erforderlich. Wie lange der Erblasser den Abschluss des Pflichtteilsverzichts überlebt und wie wahrscheinlich sein Tod in ...