Während vorstehend vom eingetretenen Erbfall und dem damit in der Person eines Sozialleistungsbeziehers entstandenen Pflichtteilsanspruch die Rede war, geht es nachfolgend um das noch nicht konkretisierte Pflichtteilsrecht, das dem Empfänger von ALG II/Sozialhilfe zusteht, wenn er zu dem in § 2303 BGB umschriebenen Personenkreis gehört. Praktisch bedeutsam ist, ob der Sozialleistungsbezieher dem (künftigen) Erblasser gegenüber wirksam und sanktionslos auf seinen Pflichtteil verzichten kann.
1. Kein Übergang auf den Leistungsträger
Bezieht der Verzichtende Sozialleistungen, so macht dies allein einen Pflichtteilsverzicht (§ 2346 Abs. 2 BGB) noch nicht unwirksam. Das bloße Pflichtteilsrecht geht nicht auf den Leistungsträger über. § 33 SGB II bzw. § 93 SGB XII erfassen zwar auch künftige "Ansprüche" (§ 33 Abs. 2 S. 4 SGB II). Gegenstand des Verzichts ist jedoch das Pflichtteilsrecht, d. h. die bloße Chance, mit dem Tod des (vom Verzichtenden zu überlebenden) Erblassers den schuldrechtlichen Pflichtteilsanspruch zu erwerben, nicht dagegen ein Anwartschaftsrecht oder der künftige Pflichtteilsanspruch. Diese bloße Chance ist nicht übertragbar. Sie kann daher nicht Gegenstand anderer Rechtsgeschäfte als des gesetzlich ausdrücklich geregelten Verzichts (§ 2346 BGB) sein. Erst recht ist das Pflichtteilsrecht nicht als verwertbares Vermögen bedürftigkeitsmindernd zu berücksichtigen, weil ungewiss ist, wann der Erbfall eintritt und ob der Pflichtteilsberechtigte den Erblasser überlebt (vgl. § 9 Abs. 1 SGB II, § 90 Abs. 1 SGB XII).
2. Sittenwidrigkeit des Pflichtteilsverzichts?
Im Hinblick auf die aleatorische Natur des Pflichtteilsverzichts verneint eine Literaturauffassung die Sittenwidrigkeit des Verzichts eines Sozialleistungsempfängers. Ein anderer Teil der älteren Literatur hält den Verzicht jedenfalls dann für sittenwidrig, wenn der Verzichtende sowohl – mit Kenntnis des Erblassers – im Zeitpunkt des Rechtsgeschäfts als auch im Zeitpunkt des Erbfalls Sozialleistungen bezieht und nicht angemessen abgefunden wird. Zu folgen ist der ersten Ansicht. Der Pflichtteilsverzicht ist mangels Zielgenauigkeit regelmäßig kein geeignetes Mittel, um zulasten des Leistungsträgers zu handeln. Er kann dann auch nicht ausschließlich von dem Motiv getragen sein, etwa noch zu erwerbendes Vermögen dem Zugriff des Trägers von Sozialleistungen zu entziehen. Der Verzichtende kann im Normalfall nicht ausschließen, dass er die Folgen des Verzichts selbst spürt (Wagnischarakter). Für ihn ist in der Regel nicht vorhersehbar, ob er im Zeitpunkt des Erbfalls noch Sozialleistungen empfängt oder nicht mehr. Der Wagnischarakter des Pflichtteilsverzichts unterscheidet diesen entscheidend von der Ausschlagung einer werthaltigen Erbschaft durch einen Empfänger staatlicher Sozialleistungen. Letztere hat das OLG Hamm kürzlich für sittenwidrig erachtet. Eine andere Beurteilung ist allerdings ausnahmsweise dann angebracht, wenn das aleatorische Element vernachlässigenswert ist, etwa wenn der Erblasser im Sterben liegt oder der Verzichtende mit Sicherheit zeitlebens Sozialleistungen empfangen wird (kaum denkbar, weil er stets irgendwie – Lotto oder Heirat – zu Vermögen kommen kann). Verzichten die Kinder ihren Eltern gegenüber auf den Pflichtteil nach dem erstversterbenden Elternteil, um diesem das Familienwohnhaus oder das Familienunternehmen zu erhalten, spricht auch dieses billigenswerte Motiv gegen die Sittenwidrigkeit des Verzichts. ME ist der Pflichtteilsverzicht durch einen Empfänger von ALG II und damit einen Erwerbsfähigen, von dem durchaus erwartet werden kann, dass er in der Zukunft aus eigener Kraft seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten kann, ein Gestaltungsmittel, um den Zweifeln an der Vereinbarkeit sog. Bedürftigentestamente mit den guten Sitten (§ 138 BGB) aus dem Weg zu gehen.
Das OLG Köln hat die hier vertretene Auffassung jüngst in einem Urteil vom 9.12.2009 bestätigt. Eheleute – die Ehefrau schwer krebskrank – errichteten im November 2006 ein notarielles gemeinschaftliches Testament. Darin setzten sie sich gegenseitig zu Alleinerben des Erstversterbenden ein. Zu Schlusserben setzten sie ihre drei Kinder ein. Da eine Tochter jedoch lernbehindert war und schon seit 1992 von Sozialhilfe (§§ 53 ff, 19 Abs. 5 SGB XII) lebte, setzten die Eltern diese lediglich als nicht befreite Schluss-Vorerbin zu 17 % (ihre Pflichtteilsqote betrug 16,66 %) ein und unterwarfen sie der Dauertestamentsvollstreckung. Dass die Eheleute die behinderte Tochter abweichend von den beim Behindertentestament gängigen Gestaltungsmodellen nach dem er...