Leitsatz
1. Auflagen dürfen – an objektiven Kriterien gemessen – sinnfrei, sogar unsinnig sein, ohne dass dies allein zu einer Unwirksamkeit führt. Dem Erblasser muss es im Wege der nach Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG geschützten Testierfreiheit möglich sein, die Erbfolge nach seinen eigenen Vorstellung zu gestalten, sodass eine Sittenwidrigkeit einer Auflage nur in besonders schwerwiegenden Ausnahmefällen angenommen werden kann.
2. Das testamentarisch verfügte Betretungsverbot für den Lebensgefährten der Erbin schränkt die Klägerinnen in einem nicht zu billigenden Maße in ihrer privaten und höchstpersönlichen Lebensführung ein. Zwar ist den Klägerinnen selbst nicht verwehrt, die geerbte Immobilie zu betreten, das Betretungsverbot wirkt aber im Ergebnis auch auf die Klägerinnen ein, wenn diese zu jeder Zeit dafür Sorge zu tragen hätten, dass eine Person, mit der sie den Kernbereich ihrer Lebensführung zu gestalten wünschen, ihr Eigentum nicht betreten darf.
3. Die Auflage verfolgt auch nicht den legitimen Zweck, den Grundbesitz der Familie für eben diese erhalten zu wollen und vor dem Zugriff Dritter zu schützen. Die streitgegenständliche Auflage verfolgt lediglich das Ziel, die Beziehung der Klägerin zu ihrem Lebensgefährten zu erschweren. Eine derartige Einflussnahme der Erblasserin auf die Entschließungsfreiheit ihrer Erbinnen ist von der Rechtsordnung auch unter Berücksichtigung der Testierfreiheit der Erblasserin nicht hinzunehmen und damit als sittenwidrig einzuordnen.
LG Bochum, Urt. v. 29.4.2021 – I-8 O 486/20
1 Tatbestand
Die Klägerinnen sind die Tochter und die Enkelin und zugleich die Erbinnen der am 10.12.2019 verstorbenen X. Mit notariellem Testament vom 1.6.2017 setzte die Erblasserin die Klägerinnen zu je ½ als Erbinnen ein. Zur Erbmasse gehören die Grundstücke in der … (Flurstücke 69, 70 und 71).
Bis zu ihrem Tod bewohnte die Erblasserin die Erdgeschosswohnung der auf den Grundstücken befindlichen Immobilie, die Klägerin zu 1) bewohnte die Wohnung im ersten Obergeschoss. Die Klägerin zu 2) wohnt seit 2016 nicht mehr in der Immobilie.
In dem notariellen Testament vom 1.6.2017 formulierte die Erblasserin unter Ziffer III. folgende Auflage:
Zitat
"Die Erben haben dafür zu Sorgen, dass es Herrn L. auf Dauer untersagt wird, die Grundstücke … (Flurstücke 69, 70 und 71) zu betreten."
Die Klägerinnen greifen ausdrücklich nur die Auflage hinsichtlich des Betretungsverbots an.
Weiter heißt es:
Zitat
"Das Betretungsverbot ist Herrn L. von den Erben unverzüglich schriftlich mitzuteilen. Den Erben ist es darüber hinaus untersagt, das Grundstück oder Teile davon an Herrn L. oder dessen Abkömmlinge zu veräußern, zu verschenken oder auf sonstige Weise zu übertragen."
Zugleich wurde den Erbinnen für fünf Jahre untersagt, die Grundstücke auch anderweitig zu veräußern oder mit Hypotheken und Grundschulden zu belasten.
Zur Durchsetzung der Auflagen ordnete die Erblasserin die Testamentsvollstreckung durch den Beklagten für sechs Jahre an.
Sollten die Erbinnen gegen diese Auflagen verstoßen, hat der Beklagte als Testamentsvollstrecker die Grundstücke zu veräußern und den Verkaufserlös zu ¼ an die Klägerinnen auszukehren und im Übrigen zu je ¼ an die im Testament benannten gemeinnützigen Einrichtungen zu zahlen. Bei diesen handelt es sich um den Palliativnetz … sowie um die Caritas-Hospiz-Trägergesellschaft …
Bei Herrn L. handelt es sich um den langjährigen Lebensgefährten der Klägerin zu 1) und den "Ziehvater" der Klägerin zu 2). Die Klägerin zu 1) lebt mit diesem seit annähernd zehn Jahren in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, ist aber weiterhin mit dem Vater ihrer Tochter, der Klägerin zu 2), verheiratet. Einen dauerhaften gemeinsamen Hausstand haben die Klägerin zu 1) und Herr L. bisher nicht begründet.
Die Klägerinnen sind der Ansicht, die Auflage sei sittenwidrig. Sie behaupten, Herr L. habe an ihrem Familienleben und dem der Erblasserin teilgenommen sowie Reparaturen am Haus erledigt. Es habe ein inniges und harmonischen familienähnliches Verhältnis bestanden. Vor diesem Hintergrund sei die Auflage völlig unverständlich und nicht nachvollziehbar. Die Ausübung des bisherigen Familienlebens sei durch die Auflage vollständig unmöglich. Dass man bisher abwechselnd entweder in der Wohnung der Klägerin zu 1) oder der des Herrn L. gelebt habe und nicht gemeinsam die Wohnung der Klägerin zu 1) bezogen habe, läge daran, dass man die Erblasserin nicht habe alleine lassen wollen. Diese habe aber unter einem notorischen Kontrollzwang gelitten und neben dem Wohnbereich der Klägerin zu 1) auch deren persönliche Unterlagen durchsucht. Dieses Verhalten habe man Herrn L. nicht zumuten können und wollen.
Es handele sich bei der Auflage um einen bösartigen Versuch, insbesondere die Klägerin zu 1) in ihrer privaten Gestaltungsmöglichkeit zu beeinträchtigen. Die Erblasserin habe die Beziehung zu Herrn L. nicht gutgeheißen. Von einer "außerehelichen" Beziehung zu sprechen, entbehre aber jeder Grundlage. Der Klägerin zu 1) sei es aufgrund der Auflage unmöglich, mit Herr...