(1) Skepsis für "schwierige" Fälle?
In der modernen Kommunikationswissenschaft heißt es: "Das Medium ist die Botschaft." Gemeint ist, dass das Medium das Kommunikationsverhalten verändert. Ausgehend von dieser Erkenntnis müssen potenzielle Schwächen des Mediums Videoverhandlung, etwa Linearität und Partizipationshürden, aktiv überwunden werden, um eine "gute Kommunikation" zu erreichen. Dies verlangt der "Moderatorin" bzw. dem "Moderator" (hier gedacht als dem Gericht) neue Fähigkeiten ab. Ebenso wie im Gerichtssaal gibt es im virtuellen Raum Möglichkeiten, eine vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre zu schaffen bzw. zu verbessern, Partizipation und konstruktiven Austausch zu fördern. Das kann und sollte in Schulungen gezielt gefördert werden.
Gleichzeitig bleiben Unterschiede. So hat wohl allein die fehlende physische Präsenz im Gerichtssaal Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Beteiligten; auch fehlt etwa der Augenkontakt, dem eine bedeutende Rolle im kommunikativen Prozess zugeschrieben wird.
Im juristischen Diskurs wird auf kommunikationswissenschaftliche und psychologische Gesichtspunkte häufig nur am Rande eingegangen. Häufig bleibt es bei der eher apodiktischen Aussage, dass zahlreiche "menschliche Komponenten" – die das Fundament für Verhandlungen und Streitschlichtungen darstellten – in Videoverhandlungen verlorengingen. Die Videoverhandlung sei daher – das schwingt mit oder wird offen ausgesprochen – in vielen Fällen ungeeignet. In aktuellen Stellungnahmen zu § 128a ZPO heißt es etwa,
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der Einsatz von Videotechnik müsse "maßvoll und überlegt" erfolgen, gerichtliche Verfahren dürften nicht "alltäglich, beiläufig und damit letztlich beliebig" erscheinen; |
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die Kommunikation mit einem Monitorbild könne niemals die Interaktion bei der persönlichen Zusammenkunft einer Personenmehrheit ersetzen; die mündliche Verhandlung in Präsenz ermögliche die Aufklärung des Sachverhalts, die diskursive Rechtsfindung und das Ausloten gütlicher Lösungen auf bestmögliche Weise; |
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ein rein elektronisches Verfahren gewähre zwar rechtliches Gehör, biete den Parteien im Vergleich zur mündlichen Erörterung des Prozessstoffs unmittelbar vor dem erkennenden Gericht aber nur eine eingeschränkte Möglichkeit, ihren Standpunkt darzulegen; auch eine gütliche Einigung könne am ehesten in einer physischen mündlichen Verhandlung vor Ort erreicht werden; |
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es gebe zwar kein Verfahren, dass sich von vornherein nicht eignen würde, regelmäßig geeignet(er) seien aber solche Verfahren, in denen das persönliche Erscheinen der Parteien weder angeordnet noch zu erwarten sei und lediglich Rechtsfragen erörtert werden; |
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als allgemeine Richtschnur für die Eignung eines Verfahrens könne gelten, dass eine Verhandlung oder Anhörung im Wege der Videokonferenz umso eher in Betracht kommt, je mehr die Sachverhaltsaufklärung und je weniger der persönliche Eindruck des Gerichts von den anzuhörenden Personen im Vordergrund stehe; besonders sensible oder "brisante" Verfahren eigneten sich eher nicht; |
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dass sich bei sehr emotionalen Konflikten, bei sehr zerstrittenen Parteien eher eine mündliche Verhandlung in Präsenz anbieten dürfte. |
Andererseits könnten gewisse Faktoren auch positiv wirken. So könnten sich gerade die erhöhte Distanz – auf den ersten Blick Mangel – und die stärker lineare, gelenkte Kommunikation in besonders aufgeladenen Konflikten auch als vorteilhaft erweisen, ein sachliches Gespräch ggf. überhaupt erst ermöglichen. Aus der Distanz lasse sich ein "Nein" zu Verhandlungen möglicherweise leichter aussprechen als vor Ort von Angesicht zu Angesicht. Eine virtuelle Teilnahme der Partei könnte immer noch mehr Chancen auf eine Einigung bieten als eine Teilnahme nur des Bevollmächtigten. Zudem wird auf kürzere Verfahrensdauern verwiesen, ein Vorteil auch darin erblickt, dass die Teilnahme durch die sachbearbeitenden Rechtsanwälte selbst erfolge statt durch Terminsvertreter.