1. Anwaltsperspektive
a. Rechtliche Möglichkeiten und die Voraussetzungen für deren Nutzung
Warum streben wir eine Digitalisierung des Zivilprozesses überhaupt an? Welche Vorteile versprechen wir uns von Videoverhandlungen? In der Begründung des Entwurfs werden Videoverhandlungen als potenziell "schneller, kostengünstiger, ressourcenschonender und nachhaltiger" dargestellt. Zeitersparnis am konkreten Tag und damit einhergehend eine Kostenersparnis für die Mandantinnen und Mandanten sind’sicherlich Faktoren. Gleichzeitig verbinde auch ich mit Videoverhandlungen die Hoffnung auf eine kürzere Verfahrensdauer.
Diese Hoffnung ist – jedenfalls zum aktuellen Zeitpunkt – allerdings nur bedingt berechtigt. Zu erwarten ist, dass es bei stärkerer Nutzung der Videokonferenztechnik zu weniger Verlegungsanträgen kommen wird, weil An- und Abreisezeiten entfallen und eine Verhandlung besser zwischen bereits feststehende Termine passt. Aktuell und auch nach der geplanten Reform bleibt aber die Ressource "Sitzungssaal" ein limitierender Faktor, weil die Parteien es in der Hand haben, doch physisch zu erscheinen. Das ist für "Videoverhandlungen" bemerkenswert und könnte ein Argument für eine (verbindliche) Anordnung (ohne Opt-out) darstellen.
Die Ressource "Richterinnen und Richter" ist ein weiterer limitierender Faktor. Jede und jeder kann realistischerweise nur eine bestimmte Anzahl von Fällen bearbeiten, was technischen und organisatorischen Möglichkeiten, schneller zu terminieren, Grenzen setzt.
Wie lange soll, wie lange darf ein Verfahren also dauern? Welche unterschiedlichen Verfahrensarten will unsere Rechtsordnung anbieten? Diese Fragen stehen in einem Zusammenhang. Die Befürchtung, dass das Ansehen des Gerichts sinken könnte, wenn in einem unpersönlichen Videoformat verhandelt wird, die mündliche Verhandlung mal schnell zwischen Zumba und Online-Shopping stattfinden könnte, ist nicht einfach von der Hand zu weisen. Gleichzeitig dürfte sicher davon auszugehen sein, dass das Ansehen der und das Vertrauen in die Justiz massiv leidet, wenn sie nicht in der Lage ist, Verfahren in einem für die Bürgerinnen und Bürger angemessenen Zeitrahmen abzuschließen. Bürgerinnen und Bürger werden dann nach Alternativen suchen. Sinkende Eingangszahlen individueller Zivilverfahren bei den Gerichten und der Erfolg von Legal-Tech-Unternehmen wie Flightright sind Anfänge dieser Entwicklung. Viele Rechtssuchende erhalten lieber einen gewissen Betrag sofort als das "richtige Ergebnis" später, ggf. erst nach Jahren und mit großem emotionalen und zeitlichen Aufwand. Wollen wir die Justiz und den Zivilprozess erhalten, müssen gerichtliche Verfahren generell schneller werden. Die Digitalisierung könnte hier umfassende Möglichkeiten bieten. Die Grundstimmung ist daher positiv. Gesetzgeber und Verwaltung mögen bitte aber auch die tatsächlichen Voraussetzungen für die Nutzung dieser Möglichkeiten schaffen.
b. Welche Verfahren eignen sich (nicht)? Eine mangels’verlässlicher Daten nicht abschließend zu beantwortende Frage
(1) Skepsis für "schwierige" Fälle?
In der modernen Kommunikationswissenschaft heißt es: "Das Medium ist die Botschaft." Gemeint ist, dass das Medium das Kommunikationsverhalten verändert. Ausgehend von dieser Erkenntnis müssen potenzielle Schwächen des Mediums Videoverhandlung, etwa Linearität und Partizipationshürden, aktiv überwunden werden, um eine "gute Kommunikation" zu erreichen. Dies verlangt der "Moderatorin" bzw. dem "Moderator" (hier gedacht als dem Gericht) neue Fähigkeiten ab. Ebenso wie im Gerichtssaal gibt es im virtuellen Raum Möglichkeiten, eine vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre zu schaffen bzw. zu verbessern, Partizipation und konstruktiven Austausch zu fördern. Das kann und sollte in Schulungen gezielt gefördert werden.
Gleichzeitig bleiben Unterschiede. So hat wohl allein die fehlende physische Präsenz im Gerichtssaal Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Beteiligten; auch fehlt etwa der Augenkontakt, dem eine bedeutende Rolle im kommunikativen Prozess zugeschrieben wird.
Im juristischen Diskurs wird auf kommuni...