Ist nach alledem denjenigen Stimmen in Rechtsprechung und Literatur zuzustimmen, die eine vollständige Nachlassaufzehrung zulasten des Pflichtteilsberechtigten ablehnen, stellt sich in einem zweiten Schritt die Frage nach der konkreten Grenze der Ausgleichungsbemessung. Bislang haben die Vertreter dieser Auffassung keine Untergrenze des Pflichtteils benannt, die dem Ausgleichungstatbestand gem. § 2057a Abs. 1 S. 2 BGB entzogen bleiben muss. Dies ist aber zwingend erforderlich, sollte künftig eine potenzielle Ausgleichung zulasten des gesetzlichen Pflichtteils entscheidungserheblich werden.
Die Bemessung des Ausgleichungsbetrags nach § 2057a Abs. 1, 3 BGB ist in zivilprozessualer Hinsicht im Wege einer Gesamtschau vorzunehmen, unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls. Das Gericht hat nach freier Überzeugung über die Höhe des Ausgleichungsbetrags zu befinden, § 287 Abs. 2 ZPO. Demnach muss auch die Bestimmung einer Untergrenze des Pflichtteils anhand dieses Maßstabs erfolgen. Hierbei scheint es zweckmäßig, eine prozentuale Untergrenze zu bilden, um die Realisierung des Pflichtteils sicherzustellen.
In einem freilich anderen Zusammenhang bestimmt der BGH prozentuale Grenzen, ab denen von einer vollständigen Vermögensaufzehrung auszugehen ist, wie folgt: Das Gericht nimmt ein Rechtsgeschäft über das Vermögen im Ganzen (§ 1365 BGB) an, wenn ein Ehegatte Einzelgegenstände veräußert, die mehr als 85 Prozent des Aktivvermögens ausmachen, sofern das Vermögen einen Wert von bis zu 250.000 EUR aufweist. Handelt es sich um einen höheren Gesamtaktivvermögenswert, so soll die Grenze bei 90 Prozent liegen. Das heißt, bei kleinen Vermögen muss mindestens 15 Prozent des Vermögens, bei großen mindestens 10’Prozent bestehen bleiben. Andernfalls handelt es sich um eine Verfügung über das Vermögen im Ganzen oder in anderen Worten: eine nahezu vollständige Vermögensaufzehrung. Nach Auffassung des BGH schütze die Norm den nicht verfügenden Ehegatten vor der Aushöhlung seines potenziellen Zugewinnausgleichsanspruchs. Weiterhin schütze die Norm den Erhalt des Familienvermögens.
Es wird nicht verkannt, dass die Entscheidungen des BGH zur familienrechtlichen Norm des § 1365 BGB dem Recht des Zugewinnausgleichs zuzuordnen sind. Sie können daher nicht unmittelbar auf die hiesige erbrechtliche Konstellation übertragen werden. Dennoch können die Prozentgrenzen zumindest als Diskussionsgrundlage für die zu ermittelnde Untergrenze bei der Ausgleichungsbemessung dienen: Die Entscheidungen zu § 1365 BGB illustrieren, wie Untergrenzen von Vermögensmassen bestimmt werden können, und zwar abhängig von einer Aktivvermögensgröße. Die Rechtsprechung verfolgt einen pragmatischen Ansatz, indem sie prozentuale Untergrenzen benennt und damit die Einzelfallbewertung rechtssicher systematisiert. Nur durch eine solche Konkretisierung kann § 1365 BGB von der Rechtspraxis sinnvoll angewandt werden.
Ein solches Bedürfnis an Rechtssicherheit besteht auch bei der hier diskutierten Untergrenze des Pflichtteils. Zudem besteht zwischen der Rechtsprechung des BGH zu § 1365 BGB und der hier behandelten Problematik insofern eine Parallele, als dass der Pflichtteilsanspruch – so wie § 1365 BGB – auch dazu dient, eine Mindestbeteiligung am Familienvermögen zu sichern. Wenn Gerichte und Literatur vorbringen, die Ausgleichung nach § 2057a BGB dürfe nicht den gesamten Nachlass aufbrauchen, ist letztlich Kern des Problems, ab wann das (Erblasser-)Vermögen und davon abgeleitet der Pflichtteil im Ganzen von der Ausgleichung betroffen ist. Dem Grunde nach stellt hierbei das Erblasservermögen – wie das Ehegattenvermögen auch – lediglich eine mehr oder weniger konkret umrissene Vermögenposition dar, die es zu schützen gilt. Daher erscheint es zulässig und zweckmäßig, die vorstehend genannten Wertgrenzen des BGH zumindest rechtsgedanklich auch auf § 2057a BGB zu übertragen.
Danach müsste bei der Berechnung der Ausgleichung gem. § 2057a Abs. 1, 3 BGB bei Pflichtteilswerten unter 250.000 EUR mindestens 15 Prozent des gesetzlich vorgesehenen Pflichtteils unangetastet bleiben. Bei größeren Pflichtteilswerten – über 250.000 EUR – müssten mindestens 10 Prozent des Pflichtteils ausgleichungsfrei bleiben. Mit diesen Untergrenzen wird sichergestellt, dass der Pflichtteilsberechtigte seine verfassungsrechtlich geschützte Mindestbeteiligung realisieren kann. Gleichzeitig legen diese Werte nur eine Untergrenze fest. Bis zu dieser Grenze kann der Ausgleichungsberechtigte die Ausgleichungspflicht geltend machen.