Leitsatz
Ist der Pflichtteilsberechtigte der Alleinerbe des Verpflichteten, so bleibt trotz des zivilrechtlichen Erlöschens des Pflichtteilsanspruchs erbschaftsteuerrechtlich sein Recht zur Geltendmachung des Pflichtteils als Folge der Regelung in § 10 Abs. 3 ErbStG bestehen. Erklärt der Berechtigte in einem solchen Fall gegenüber dem Finanzamt, er mache den Anspruch geltend, ist dies erbschaftsteuerrechtlich unabhängig davon zu berücksichtigen, ob der Verpflichtete damit rechnen musste, den Anspruch zu Lebzeiten erfüllen zu müssen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Pflichtteilsanspruch im Zeitpunkt der Mitteilung an das Finanzamt noch nicht verjährt ist.
BFH, Urteil vom 19. Februar 2013 – II R 47/11, Vorinstanz: FG Berlin-Brandenburg vom 22. September 2010 – 14 K 14203/07
Sachverhalt
Der im Jahr 2003 verstorbene Vater (V) der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) wurde von seiner Ehefrau, der Mutter (M) der Klägerin, aufgrund eines sog. Berliner Testaments allein beerbt. Erbschaftsteuer war für diesen Erwerb von Todes wegen nicht festzusetzen, weil die der M zustehenden Freibeträge (§§ 16 und 17 des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes in der u. a. für die Jahre 2003 und 2004 geltenden Fassung – ErbStG –) nicht überschritten waren. Die Klägerin ist die Alleinerbin der im August 2004 verstorbenen M. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt – FA –) setzte die Erbschaftsteuer gegen die Klägerin durch den unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung – AO –) ergangenen Bescheid vom 25. Februar 2005 fest, ohne den der Klägerin wegen der Enterbung durch V gemäß § 2303 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) zustehenden Pflichtteilsanspruch als Nachlassverbindlichkeit abzuziehen.
Mit Schreiben vom 5. April 2005 teilte die Klägerin dem FA mit, sie mache als Tochter des V ihren Pflichtteil geltend, da sie durch das Testament ihrer Eltern von der Erbfolge nach V ausgeschlossen gewesen sei. Der Pflichtteilsanspruch sei noch nicht verjährt. Sie bitte um entsprechende Reduzierung des auf sie übergegangenen Nachlasses der M. Das FA folgte diesem Begehren weder im Änderungsbescheid vom 22. September 2005 noch in der Einspruchsentscheidung vom 10. September 2007, in der es die Erbschaftsteuer ausgehend von einem steuerpflichtigen Erwerb von 556.165 EUR vor Abrundung (§ 10 Abs. 1 Satz 5 ErbStG) auf 98.850 EUR festsetzte.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage mit der Begründung ab, der sich auf 70.536 EUR belaufende Pflichtteilsanspruch der Klägerin sei nicht als Nachlassverbindlichkeit abziehbar. Es sei nicht feststellbar, dass die Klägerin den Anspruch gegenüber M iSv § 10 Abs. 5 Nr. 2 ErbStG geltend gemacht habe und er für M deshalb eine wirtschaftliche Belastung dargestellt habe. Der Erklärung der Klägerin im Schreiben vom 5. April 2005, sie mache den Pflichtteil geltend, komme keine Bedeutung zu.
Mit der Revision bringt die Klägerin vor, sie habe den Pflichtteil mit dem Schreiben vom 5. April 2005 gegenüber dem FA wirksam geltend gemacht. Der Pflichtteilsanspruch sei daher bei der Festsetzung der Erbschaftsteuer für ihren Erwerb als Alleinerbin der M als Nachlassverbindlichkeit abzuziehen. (...)
Aus den Gründen
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur antragsgemäßen Herabsetzung der Erbschaftsteuer (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung – FGO –). Das FG hat zu Unrecht angenommen, dass der Pflichtteilsanspruch der Klägerin nicht als Nachlassverbindlichkeit abziehbar sei.
1. Zu den nach § 10 Abs. 1 Satz 2 ErbStG abzugsfähigen Nachlassverbindlichkeiten gehören gemäß § 10 Abs. 5 Nr. 2 ErbStG u. a. Verbindlichkeiten aus geltend gemachten Pflichtteilen (§§ 2303 ff BGB). Damit übereinstimmend gilt ein Pflichtteilsanspruch gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG erst dann als Erwerb von Todes wegen, wenn er geltend gemacht wird.
a) Dem bloßen Entstehen des Anspruchs auf einen Pflichtteil mit dem Erbfall (§ 2317 Abs. 1 BGB) kommt erbschaftsteuerrechtlich noch keine Bedeutung zu, und zwar sowohl gegenüber dem Berechtigten als auch gegenüber dem Verpflichteten. Dieses zeitliche Hinausschieben der erbschaftsteuerrechtlichen Folgen eines Pflichtteilsanspruchs ist im Interesse des Berechtigten geschehen und soll ausschließen, dass bei ihm auch dann Erbschaftsteuer anfällt, wenn er seinen Anspruch zunächst oder dauerhaft nicht erhebt (Urteile des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 7. Oktober 1998 II R 52/96, BFHE 187, 50, BStBl II 1999, 23; vom 19. Juli 2006 II R 1/05, BFHE 213, 122, BStBl II 2006, 718, und FG München vom 31. März 2010 II R 22/09, BFHE 229, 374, BStBl II 2010, 806, Rn 11).
b) Die "Geltendmachung" des Pflichtteilsanspruchs besteht in dem ernstlichen Verlangen auf Erfüllung des Anspruchs gegenüber dem Erben. Der Berechtigte muss seinen Entschluss, die Erfüllung des Anspruchs zu verlangen, in geeigneter Weise bekunden (BFH-Urteil in BFHE 213, 122, BStBl II 2006, 718). Ist dies geschehen, entsteht die Erbschaftsteuer für den Erwerb des Pflichtteilsanspruchs (§ 3 Abs. 1 Nr. 1...