Wie bereits oben ausgeführt wurde, verkennt das KG Berlin, dass für die mutmaßliche Einwilligung nicht das Prinzip des fehlenden Interesses entscheidend ist, sondern das des überwiegenden Interesses. Andernfalls hätte der Rechtfertigungsgrund keinen praktischen Anwendungsbereich.
Dazu Schlehofer: "Nach dem Prinzip des mangelnden Interesses müsste man eine 100%ige Wahrscheinlichkeit verlangen. Nur dann stünde fest, dass es an einem Interesse an der Erhaltung des Rechtsgutsobjekts mangelt. Eine solche Prognose ist in der Realität aber nicht möglich; in ihr gibt es keine absolute Sicherheit. Man hat also stets zwei Wahrscheinlichkeiten: die, dass der Rechtsgutsträger oder sein Vertreter zustimmen würde, und die, dass er es nicht täte. Damit gibt es stets ein Interesse, das dem Interesse, die Tat zu begehen, widerstreitet – das potentielle Interesse des Rechtsgutsträgers an der Erhaltung des Rechtsgutsobjekts. Um diesen Widerstreit systemkonform aufzulösen, muss man die Interessen gegeneinander abwägen und dem überwiegenden Interesse den Vorzug geben."
Der entgegengesetzte Ausgangspunkt in der Argumentation des KG Berlin hat bspw. zur Folge, dass das Gericht danach fragt (Rn 109 – Hervorhebung nur hier), ob "alle Kommunikationspartner, die mit der Erblasserin über die Dienste der Beklagten persönliche Inhalte ausgetauscht haben, ihr Interesse an der Wahrung des Telekommunikationsgeheimnisses insoweit gegenüber dem Interesse der Klägerin preisgeben" würden. Das ist nach dem zuvor Gesagten die falsche Frage, denn je größer die Menge der potentiellen Kommunikationspartner wird, umso wahrscheinlicher wird es auch, dass zumindest einer von ihnen nicht einverstanden wäre. Da eine 100%ige Wahrscheinlichkeit aber eben nicht existiert, kann das KG Berlin auf diese Weise die Interessen der Erben bei seiner Argumentation außen vorlassen.
Die richtige Fragestellung kann deshalb nicht von der Anzahl der Kommunikationspartner abhängen. Vielmehr muss man fragen: Ist es überwiegend wahrscheinlich, dass ein Kommunikationspartner in Kenntnis aller Umstände seine Zustimmung erteilen würde?
Wenn wir uns nun aber fragen, ob es überwiegend wahrscheinlich ist, dass ein Kommunikationspartner der verstorbenen Tochter angesichts der Umstände des Todes und des – vom KG Berlin nicht mehr erwähnten! – Schadensersatzverlangens des U-Bahn Fahrers gegen die Eltern, auf den Schutz seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Form des Fernmeldegeheimnisses verzichten würde, so muss man diese Frage aus meiner Sicht mit einem klaren Ja beantworten.
Wie eingangs erwähnt, sind dabei insbesondere auch die folgenden Umstände zu berücksichtigen, die wir bereits oben bei der Auslegung angesprochen hatten: Bereits zu Lebzeiten der Erblasserin hatte diese ab Zugang einer Nachricht bei ihr die Möglichkeit zur Weiterleitung dieser Nachricht, bspw. über die dafür von Facebook beim Facebook Messenger eingerichtete und auch bei anderen elektronischen Kommunikationsmitteln übliche Weiterleitungsfunktion. Das ist den Teilnehmern an elektronischen Kommunikationsmethoden auch bekannt. Auch bei Briefen entspricht es nicht der Verkehrssitte, dass der Empfänger den Inhalt um jeden Preis geheim halten muss. Es entspricht vielmehr der Üblichkeit, dass der Empfänger bspw. mit seinem Partner oder seiner Familie über solche Inhalte spricht oder ihnen Briefe zu lesen gibt. Schließlich geht das Gesetz, wie die §§ 2047 Abs. 2, 2373 S. 2 BGB zeigen, davon aus, dass sowohl die Tagebuchaufzeichnungen des Erblassers als auch dessen Briefschaften als Teil des Nachlasses auf die Erben übergehen.