Leitsatz
Aus Gesichtspunkten des Vertrauensschutzes verbleibt es beim Ausschluss des Erbrechts vor dem 1. Juli 1949 geborener nichtehelicher Abkömmlinge, wenn ansonsten dem Erblasser nahe gestandene Erbprätendenten – hier die Ehefrau und eine Erbin zweiter Ordnung – in ihrem Erbrecht beschränkt bzw. vollständig verdrängt würden (Abgrenzung zu EGMR, Urteil vom 28. Mai 2009 – 3545/04 –, ZEV 2009, 510).
KG Berlin, Beschluss vom 29. Juni 2010 – 1 W 161/10
Sachverhalt
Die am 26.5.1948 geborene Antragstellerin ist das nichteheliche Kind des Erblassers W. G., geb. am 19.1.1922, der am 1.5.2009 verstorben ist. Der Erblasser hatte entsprechend der Geburtsurkunde vom 15.2.1957 die Vaterschaft zu dem Kinde vor dem Notar Doktor L. in Berlin-Spandau anerkannt. Er war in zweiter Ehe mit Frau H. G., geb. H., verheiratet, die kinderlos geblieben ist. Eine Verfügung von Todes wegen wurde nicht hinterlassen.
Auf Antrag der Ehefrau hat das Amtsgericht Wedding zum Aktenzeichen 62 VI 580/09 unter dem 17.12.2009 einen gemeinschaftlichen Erbschein erlassen, der als Erben die Ehefrau des Erblassers zu 3/4 und seine Nichte Frau M. E. D., geb. H., zu 1/4 ausweist. Die Antragstellerin beantragte mit Schriftsatz vom 18.1.2010 beim Amtsgericht Wedding für sich einen Teilerbschein, der sie als Erbin zu 1/2 ausweist. Ferner beantragte sie, den bereits erteilten Erbschein wegen Unrichtigkeit einzuziehen.
Das Nachlassgericht hat die Anträge mit Beschluss vom 4.2.2010 – 62 VI 580/09 – zurückgewiesen. Hiergegen hat die Antragstellerin am 3.3.2010 Beschwerde eingelegt, der das Nachlassgericht nicht abgeholfen hat. Es hat die Akten am 16.3.2010 dem Kammergericht zur Entscheidung vorgelegt. In seiner Nichtabhilfeentscheidung hat das Amtsgericht unter Berücksichtigung des Urteils des EGMR vom 28.5.2009 (3545/04, ZEV 2009, 510 ff) darauf hingewiesen, dass nach einem Referentenentwurf des Bundesministeriums für Justiz vom 1.12.2009 für Erbfälle vor dem 28.05.2009 weiterhin die Vorschriften des BGB in Verbindung mit Art. 12 § 10 Abs. 2 NEhelG anzuwenden sind.
Aus den Gründen
(...)
Die Beschwerde ist im Ergebnis nicht begründet.
Der Antragstellerin steht als nichtehelicher Tochter nach ihrem Vater kein Erbrecht zu. Dies folgt aus Art. 12 Abs. 1 § 10 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder (NEhelG), da sie vor dem 1. 7. 1949 geboren wurde. Ihr konnte daher weder der beantragte Erbschein erteilt werden, noch konnte der den Beteiligten zu 1) und 2) erteilte Erbschein eingezogen werden.
Der Senat hat unter Berücksichtigung des Urteils des EGMR vom 28.5.2009 – 3545/04, ZEV 2009, 510 ff – geprüft, ob die Anwendung des Art. 12 Abs. 1 § 10 Abs. 2 Satz 1 NEhelG im Lichte der EGMR-Entscheidung auch in dem vorliegenden zur Beurteilung anstehenden Fall gegen Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) iVm Art. 8 EMRK verstößt.
Er hat hierzu entsprechend der Verfügung des Senats vom 6.4.2010 zunächst Folgendes erwogen:
"(...) Der Referententwurf eines Zweiten Gesetzes zur erbrechtlichen Gleichstellung nichtehelicher Kinder (veröffentlicht bei www.bmj.bund.de zu Zivilrecht/Erbrecht/Gesetzgebung Gleichstellung nichtehelicher Kinder) sieht als Folge der Entscheidung des EGMR nur eine Gleichstellung der nichtehelichen Kinder, die vor dem 1. Juli 1949 geboren sind, für Erbfälle nach dem Stichtag vom 28. Mai 2009 (Entscheidungsdatum) vor. Der vorliegende Erbfall datiert vom 1. Mai 2009. Für diese sieht der Referentenentwurf aus Gründen des Vertrauensschutzes keine Gesetzesänderung vor. Dies wird damit begründet, dass eine rückwirkende Entziehung der Erbenstellung verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen wäre."
(...) Das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04, NJW 2004, 3407, 3408) hat hinsichtlich der Reichweite von Entscheidungen des EGMR u. a. ausgeführt: (...) "Innerhalb der deutschen Rechtsordnung stehen die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Zusatzprotokolle – soweit sie für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten sind – im Range eines Bundesgesetzes (vgl. BVerfGE 74, 358 [370] = NJW 1987, 2427; BVerfGE 82, 106 [120] = NJW 1990, 2741 = NStZ 1990, 598). "
Diese Rangzuweisung führt dazu, dass deutsche Gerichte die Konvention wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden haben. Die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und ihrer Zusatzprotokolle sind allerdings in der deutschen Rechtsordnung aufgrund dieses Rangs in der Normenhierarchie kein unmittelbarer verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab (vgl. Art. 93 I Nr. 4 a GG, § 90 I BVerfGG). Ein Beschwerdeführer kann insofern vor dem BVerfG nicht unmittelbar die Verletzung eines in der Europäischen Menschenrechtskonvention enthaltenen Menschenrechts mit einer Verfassungsbeschwerde rügen (vgl. BVerfGE 74, 102 [128] = NJW 1988, 45 = NStZ 1987, 275 mwN; BVerfG [1. Kammer des Zweiten Senats], NVwZ 2004, 852 = EuGRZ 2004, 317 [318]). Die Gewährleistungen der Konvention beeinflussen jedoch die Auslegung der...