Leitsatz

1. Art. 70 Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4.7.2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses ist dahin auszulegen, dass die beglaubigte Abschrift eines Europäischen Nachlasszeugnisses, die mit dem Vermerk "unbefristet" versehen ist, für die Dauer von sechs Monaten ab dem Ausstellungsdatum gültig ist und ihre Wirkungen im Sinne von Art. 69 dieser Verordnung entfaltet, wenn sie bei ihrer erstmaligen Vorlage gültig war.

2. Art. 65 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 69 Abs. 3 der Verordnung Nr. 650/2012 ist dahin auszulegen, dass sich die Wirkungen des Europäischen Nachlasszeugnisses gegenüber allen dort namentlich genannten Personen entfalten, auch wenn sie seine Ausstellung nicht selbst beantragt haben.

EuGH Urt. v. 1.7.2021 – C-301/20

1 Gründe

I.

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 63, Art. 65 Abs. 1, Art. 69 und Art. 70 Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4.7.2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses (ABl 2012, L 201, S. 107, und Berichtigungen ABl 2012, L 344, S. 3, ABl 2013, L 41, S. 16, ABl 2013, L 60, S. 140, und ABl 2014, L 363, S. 186).

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen UE und HC, Sohn und Tochter des verstorbenen VJ, der seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt in Spanien hatte, und der Vorarlberger Landes- und Hypothekenbank AG, einer Bank mit Sitz in Österreich, über einen Antrag auf Herausgabe eines Geldbetrags und von Wertpapieren, die diese Bank gerichtlich hinterlegt hatte.

Rechtlicher Rahmen

In den Erwägungsgründen 7, 67, 71 und 72 der Verordnung Nr. 650/2012 heißt es:

"(7) Die Hindernisse für den freien Verkehr von Personen, denen die Durchsetzung ihrer Rechte im Zusammenhang mit einem Erbfall mit grenzüberschreitendem Bezug derzeit noch Schwierigkeiten bereitet, sollten ausgeräumt werden, um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu erleichtern. In einem europäischen Rechtsraum muss es den Bürgern möglich sein, ihren Nachlass im Voraus zu regeln. Die Rechte der Erben und Vermächtnisnehmer sowie der anderen Personen, die dem Erblasser nahestehen, und der Nachlassgläubiger müssen effektiv gewahrt werden."

(67) Eine zügige, unkomplizierte und effiziente Abwicklung einer Erbsache mit grenzüberschreitendem Bezug innerhalb der Union setzt voraus, dass die Erben, Vermächtnisnehmer, Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter in der Lage sein sollten, ihren Status und/oder ihre Rechte und Befugnisse in einem anderen Mitgliedstaat, beispielsweise in einem Mitgliedstaat, in dem Nachlassvermögen belegen ist, einfach nachzuweisen. Zu diesem Zweck sollte diese Verordnung die Einführung eines einheitlichen Zeugnisses, des Europäischen Nachlasszeugnisses (im Folgenden,das Zeugnis‘), vorsehen, das zur Verwendung in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellt wird. …

(71) Das Zeugnis sollte in sämtlichen Mitgliedstaaten dieselbe Wirkung entfalten. Es sollte zwar als solches keinen vollstreckbaren Titel darstellen, aber Beweiskraft besitzen, und es sollte die Vermutung gelten, dass es die Sachverhalte zutreffend ausweist, die nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht oder einem anderen auf spezifische Sachverhalte anzuwendenden Recht festgestellt wurden, wie beispielsweise die materielle Wirksamkeit einer Verfügung von Todes wegen. … Einer Person, die Zahlungen an eine Person leistet oder Nachlassvermögen an eine Person übergibt, die in dem Zeugnis als zur Entgegennahme dieser Zahlungen oder dieses Vermögens als Erbe oder Vermächtnisnehmer berechtigt bezeichnet ist, sollte ein angemessener Schutz gewährt werden, wenn sie im Vertrauen auf die Richtigkeit der in dem Zeugnis enthaltenen Angaben gutgläubig gehandelt hat. Der gleiche Schutz sollte einer Person gewährt werden, die im Vertrauen auf die Richtigkeit der in dem Zeugnis enthaltenen Angaben Nachlassvermögen von einer Person erwirbt oder erhält, die in dem Zeugnis als zur Verfügung über das Vermögen berechtigt bezeichnet ist. Der Schutz sollte gewährleistet werden, wenn noch gültige beglaubigte Abschriften vorgelegt werden. …

(72) Die zuständige Behörde sollte das Zeugnis auf Antrag ausstellen. Die Ausstellungsbehörde sollte die Urschrift des Zeugnisses aufbewahren und dem Antragsteller und jeder anderen Person, die ein berechtigtes Interesse nachweist, eine oder mehrere beglaubigte Abschriften ausstellen. …“

Art. 62 ("Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses") dieser Verordnung lautet:

"(1) Mit dieser Verordnung wird ein Europäisches Nachlasszeugnis (im Folgenden “Zeugnis‘) eingeführt, das zur Verwendung in einem anderen Mi...

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