I. Regelungen in deutschen Partikularrechten / Rechtsquellen zum Erbrecht der halben Geburt

Die Regelungen zum Erbrecht von Vollgeschwistern im Vergleich zum Erbrecht von Halbgeschwistern differierten in den deutschen Partikularrechten und Rechtsquellen vor 1900 stark. Erkannt werden kann jedoch die Regelmäßigkeit, dass halbbürtige Geschwister vollbürtigen nachstanden.[1]

Schon das Corpus iuris civilis normiert das Erbrecht von Halbgeschwistern ausdrücklich. Nach der Nov. 118 aus dem Jahr 543 n. Chr. kommen Halbgeschwister und deren Kinder erst dann zum Zug, wenn sowohl Vollgeschwister und deren Deszendenten (Abkömmlinge) als auch alle Aszendenten bereits vorverstorben sind. Halbgeschwister bilden eine eigene Erbklasse, die allen sonstigen Seitenverwandten der großelterlichen und höherer Generationen vorgeht.[2]

Im Sachsenspiegel I 3 § 3 werden um 1220 Halbgeschwister ggü. den Vollbürtigen innerhalb derselben Parentel (Stamm, näheres dazu unten) um einen bzw. einen halben Grad zurückgesetzt, sodass die Halbgeschwister erst mit den Kindern von Vollgeschwistern erben.[3]

Art. III § 5 unter dem Titel XII im fünften Buch des preußischen Landrechts von 1721 beruft Enkel von Vollgeschwistern zusammen mit Halbgeschwistern und deren Deszendenten zur Erbfolge.[4] Das bedeutet, dass ähnlich der Regelung im Sachsenspiegel eine Gradeszurücksetzung normiert ist.

Im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 werden gem. Th. II. Tit. 2. §§ 300 ff, 489 ff, Tit. 3. §§ 31 ff fünf Erbfolgeklassen gebildet:[5] 1) Deszendenten, 2) Eltern, 3) vollbürtige Geschwister und deren Deszendenten, 4) halbbürtige Geschwister und deren Deszendenten in Gemeinschaft mit den Aszendenten höherer Grade und zwar dergestalt, dass die eine Hälfte des Nachlasses die halbbürtigen Geschwister bzw. ihre Deszendenten erhalten und die andere Hälfte die höheren Aszendenten und 5) die entfernteren Seitenverwandten nach Gradesnähe, ohne dass es auf eine volle oder halbe Geburt ankommt. Halbgeschwister sind damit ggü. Vollbürtigen um eine Erbklasse nach hinten versetzt.

Ein Königlich Sächsisches Gesetz von 1829 statuierte folgende Erbränge: 1) Deszendenten, 2) Aszendenten (wobei die näheren die entfernteren verdrängen und die entfernteren nach Linien folgen), 3) Geschwister und deren Abkömmlinge nach dem Repräsentationsprinzip (wobei vollbürtige Geschwister einen doppelt so großen Anteil am Nachlass wie halbbürtige erhalten) und 4) sonstige Seitenverwandte. (Es kommt derjenige zum Zuge, der mit dem Erblasser den näheren gemeinsamen Vorfahren hat, bei mehreren gibt die Gradesnähe den Ausschlag). Voll- und halbbürtige Verwandte stehen damit gleichrangig nebeneinander, sodass hier das Parentelsystem mit Linear-Gradualfolge gilt.[6] Jedoch ist der Anteil der Vollbürtigen doppelt so groß wie derjenige der Halbbürtigen.

Die Statuten des Sächsischen Bürgerlichen Gesetzbuchs (Inkrafttreten am 1.3.1865) stimmen mit dem Königlich Sächsischen Gesetz vom 31.1.1829 überein bis auf die Regelung, dass auch in der 4. Erbordnung die Erbquote der Vollbürtigen doppelt so hoch ist wie diejenige der Halbbürtigen, §§ 2026 ff, 2042 des Sächsischen Gesetzbuchs.[7]

[1] Stobbe, Otto, Handbuch des Deutschen Privatrechts, Fünfter Band, Berlin 1885, § 291 VIII, S. 116.
[2] Mommsen, Theodor/Krüger, Paul/Schoell, Rudolf/Kroll, Wilhelm, Corpus iuris civilis, Editio stereotypa, Volumen Tertium, Novellae, Berlin 1895, Nov. CXVIII, S. 567 ff; Kaser, Max/Knütel, Rolf, Römisches Privatrecht, 19. Auflage, München 2008, § 67 Rn 23.
[3] Schwerin, Claudius Freiherr von, Sachsenspiegel, Ditzingen 1982, S. 22.
[4] Heydemann, Ludwig Eduard, Anklänge des Preußischen Landrechts an die Deutsche Parentelordnung, Berlin 1871, S. 4.
[5] Hattenhauer, Hans, Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, 2. Auflage, Neuwied 1994, S. 398 ff, 405, 415 f.
[6] Stobbe (o. Fußn. 1), § 292 III, S. 128.
[7] Siebenhaar, Eduard, Das Bürgerliche Gesetzbuch für das Königreich Sachsen nebst der Publikationsverordnung vom 02. Januar 1863, Leipzig 1863, S. 385 f, 388; Gegen das unbedingte Schoßfallrecht wurden schon früh Bedenken geäußert: Siebenhaar gibt in seinem Kommentar zum Sächsischen BGB (Siebenhaar, Kommentar zu dem bürgerlichen Gesetzbuche für das Königreich Sachsen, Band III, 2. Auflage, Leipzig 1869, Anm. zu § 2026) zwar einen Vorschlag wieder, die zweite und dritte Erbklasse miteinander zu verbinden, weil die geltende Regelung nach den Befürwortern des Vorschlags zu der "Unträglichkeit" führe, dass "ganz entfernte Voreltern vor den Geschwistern des Erblassers zur Erbfolge gelangen". Siebenhaar stützt aber das geltende Recht mit drei Argumenten: Erstens sei es eine rein subjektive Empfindung, in der beschriebenen Konsequenz für bestimmte Fälle eine "Unträglichkeit" anzunehmen, zweitens führe jede Verbindung von Personen, die pflichtteilsberechtigt sind, mit jenen, die keinen Pflichtteilsanspruch haben, in einer Klasse zu "Verwirrungen", drittens könne testamentarisch verfügt werden, wenn das gesetzliche Erbstatut im Einzelfall nicht passend erscheine.

II. Entscheidung des Reichskammergerichts

Im Gegensatz zu den aufgezeigten Benachteiligungen i...

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