Einführung
Das Erbrecht von Halbgeschwistern, also denjenigen Geschwistern des Erblassers, die mit ihm nur einen Elternteil gemein haben, wird in der Rechtswissenschaft unter dem Schlagwort der halben Geburt diskutiert.
A. Einführung
Dem Laien vermag dieser Terminus technicus nicht viel zu sagen. Was soll das sein, die halbe Geburt? Unwillkürlich entstehen vor dem geistigen Auge Bilder von traurigen Szenen in Kreißsälen, in denen Mütter unter den erschrockenen Augen der Väter einen missgebildeten Neugeborenen, einen halben Menschen, entweder horizontal oder vertikal geteilt, zur Welt bringen. Werden Halbgeschwister in der Jurisprudenz im erbrechtlichen Kontext mithin als missgebildet betrachtet und mit welchen Konsequenzen?
Aufschluss über diese Fragen soll der vorliegende Aufsatz geben. Er gliedert sich in eine historische Betrachtung und eine Auswertung des geltenden Rechts einschließlich der Rechtsprechung.
Unter der Geltung der alten deutschen Partikularrechte betrachtete man das Erbrecht von Halbgeschwistern des Erblassers im Vergleich zu Vollgeschwistern und zu Aszendenten (Vorfahren in gerader Linie) des Erblassers. Inwieweit die halbe Geburt der vollen gleich- oder schlechtergestellt war und wie sie in Erbrechtssystemen mit Schoßfallrecht (Schoßfall bezeichnet einen Rechtsgrundsatz, nach dem die Eltern des Erblassers, mitunter alle Aszendenten, Geschwistern bei der Erbfolge vorgehen.) u. U. gar nicht zum Zuge kommen konnte, wird unter B. beleuchtet werden.
Das unter C. behandelte geltende Recht sieht das Spannungsverhältnis ebenfalls noch zwischen Voll- und Halbgeschwistern. Auch wird das Schoßfallrecht weiter diskutiert und damit das Verhältnis von Halbgeschwistern zu Aszendenten des Erblassers. In letzter Zeit gewinnt aber v. a. die Frage an Bedeutung, ob eine Erhöhung des gesetzlichen Erbteils des Ehegatten möglich ist, wenn neben ihm nur Halbgeschwister im Zeitpunkt des Erbfalls noch vorhanden sind. Dieser Thematik widmen sich insbesondere auch die Fallstudien am Ende des Aufsatzes.
B. Problemgeschichte
I. Regelungen in deutschen Partikularrechten / Rechtsquellen zum Erbrecht der halben Geburt
Die Regelungen zum Erbrecht von Vollgeschwistern im Vergleich zum Erbrecht von Halbgeschwistern differierten in den deutschen Partikularrechten und Rechtsquellen vor 1900 stark. Erkannt werden kann jedoch die Regelmäßigkeit, dass halbbürtige Geschwister vollbürtigen nachstanden.
Schon das Corpus iuris civilis normiert das Erbrecht von Halbgeschwistern ausdrücklich. Nach der Nov. 118 aus dem Jahr 543 n. Chr. kommen Halbgeschwister und deren Kinder erst dann zum Zug, wenn sowohl Vollgeschwister und deren Deszendenten (Abkömmlinge) als auch alle Aszendenten bereits vorverstorben sind. Halbgeschwister bilden eine eigene Erbklasse, die allen sonstigen Seitenverwandten der großelterlichen und höherer Generationen vorgeht.
Im Sachsenspiegel I 3 § 3 werden um 1220 Halbgeschwister ggü. den Vollbürtigen innerhalb derselben Parentel (Stamm, näheres dazu unten) um einen bzw. einen halben Grad zurückgesetzt, sodass die Halbgeschwister erst mit den Kindern von Vollgeschwistern erben.
Art. III § 5 unter dem Titel XII im fünften Buch des preußischen Landrechts von 1721 beruft Enkel von Vollgeschwistern zusammen mit Halbgeschwistern und deren Deszendenten zur Erbfolge. Das bedeutet, dass ähnlich der Regelung im Sachsenspiegel eine Gradeszurücksetzung normiert ist.
Im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 werden gem. Th. II. Tit. 2. §§ 300 ff, 489 ff, Tit. 3. §§ 31 ff fünf Erbfolgeklassen gebildet: 1) Deszendenten, 2) Eltern, 3) vollbürtige Geschwister und deren Deszendenten, 4) halbbürtige Geschwister und deren Deszendenten in Gemeinschaft mit den Aszendenten höherer Grade und zwar dergestalt, dass die eine Hälfte des Nachlasses die halbbürtigen Geschwister bzw. ihre Deszendenten erhalten und die andere Hälfte die höheren Aszendenten und 5) die entfernteren Seitenverwandten nach Gradesnähe, ohne dass es auf eine volle oder halbe Geburt ankommt. Halbgeschwister sind damit ggü. Vollbürtigen um eine Erbklasse nach hinten versetzt.
Ein Königlich Sächsisches Gesetz von 1829 statuierte folgende Erbränge: 1) Deszendenten, 2) Aszendenten (wobei die näheren die entfernteren verdrängen und die entfernteren nach Linien folgen), 3) Geschwister und deren Abkömmlinge nach dem Repräsentationsprinzip (wobei vollbürtige Geschwister einen doppelt so großen Anteil am Nachlass wie halbbürtige erhalten) und 4) sonstige Seitenverwandte. (Es kommt derjenige zum Zuge, der mit dem Erblasser den näheren gemeinsamen Vorfahren hat, bei mehreren gibt die Gradesnähe den Ausschlag). Voll- und halbbürtige Verwandte stehen damit gleichrangig nebeneinander, sodass hier das Parentelsystem mit Linear-Gradualfolge gilt. Jedoch ist der Anteil der Vollbürtigen doppelt so groß wie derjenige der Halbbürtigen.
Die Statuten des Sächsischen Bürgerlichen Gesetzbuchs (Inkrafttreten am 1.3.1865) stimmen mit dem Königlich Sächsischen Gesetz vom 31.1.1829 überein bis auf die Regelung, dass auch in der 4. Erbordnung die Erbquote der Vollbürtigen doppelt so hoch ist wie diejenige der Halbbürtigen...