1. Änderungen im Vermögensbestand des Erblassers zwischen Testamentserrichtung und Erbfall
Neben den allgemeinen Gefahren bei der Anordnung von Vermächtnissen besteht bei Geldvermächtnissen die Problematik, dass das Vermögen des Erblassers bis zum Erbfall erheblichen Veränderungen unterworfen sein kann, sei es, dass sich das Vermögen aufgrund eintretender Wertschwankungen (z. B. Kursänderungen bei Aktien) stark erhöht bzw. verringert, sei es, dass der Erblasser sein Kapitalvermögen bis zu seinem Ableben für seinen Lebensunterhalt verbraucht oder das Kapitalvermögen durch einen Verkauf von Wirtschaftsgütern erhöht wird. Der Erblasser schenkt diesen Tatsachen selten Beachtung und stellt bei der Abfassung seiner letztwilligen Verfügung gedanklich nur auf seinen aktuellen Vermögensbestand ab.
Nicht nur wegen der zunehmenden Inflationsgefahr und dem sich daraus ergebenden Bedarf einer Wertsicherung kann die Festlegung eines absoluten Geldbetrags dem Interesse des Erblassers widersprechen. Denn er kann häufig nicht absehen, ob im Zeitpunkt seines Ablebens der Wert des Nachlasses ausreicht, um ein angeordnetes Geldvermächtnis zu erfüllen. Es kann auch sein, dass der mit dem Vermächtnis beschwerte Erbe den festgelegten Geldbetrag zwar bereitstellen kann, die eigene Begünstigung von Todes wegen dann aber deutlich geringer ausfällt, als es sich der Erblasser bei Testamentserrichtung vorstellte.
Der Erblasser, dessen gesamtes Vermögen aus einem Wertpapierdepot besteht, ordnet ein Vermächtnis iHv 500.000 EUR an. Bei Testamentserrichtung beläuft sich der Wert des Depots auf 1,5 Mio. EUR. Aufgrund eines Kursrückgangs der Wertpapiere und weil der Erblasser einen erheblichen Teil seines Vermögens aufgezehrt hat, beträgt das Gesamtvermögen im Erbfall nur noch 750.000 EUR.
Haben sich die bei Testamentserrichtung für den Erblasser wesentlichen Umstände – der Wert oder die Zusammensetzung seines Vermögens – positiv oder negativ verändert, ohne dass der Erblasser diese möglichen Änderungen vorhergesehen und bei seiner letztwilligen Verfügung bedacht hätte, entsteht eine unbewusste und planwidrige Regelungslücke im Testament. Es ist daher durch ergänzende Auslegung der hypothetische Wille des Erblassers im Zeitpunkt der Testamentserrichtung zu ermitteln. Es ist also zu erforschen, was der Erblasser verfügt hätte, wenn er die Veränderungen in seinem Vermögensbestand zwischen Testamentserrichtung und Eintritt des Erbfalls gekannt oder bedacht hätte. Hierzu ist der in der letztwilligen Verfügung angedeutete und real feststellbare Wille des Erblassers "zu Ende zu denken".
a) Anpassung eines Geldsummenvermächtnisses
Ein Vermächtnis ist grundsätzlich unwirksam, wenn der Vermächtnisgegenstand beim Erbfall nicht mehr im Nachlass vorhanden ist, es sei denn, dass der Gegenstand auch für den Fall zugewendet ist, dass er nicht mehr zur Erbschaft gehört (§ 2169 Abs. 1 Satz 1 BGB). Die Auslegungsregel gilt jedoch nicht für das Geldvermächtnis. Hierbei ist es unerheblich, ob die vermachte Geldsumme beim Erbfall noch im Nachlass vorhanden ist. Es ist daher im Einzelfall durch Auslegung anhand des hypothetischen Erblasserwillens zu ermitteln, ob eine Anpassung des Vermächtnisses erforderlich ist, mit der Folge, dass das Vermächtnis zu kürzen ist oder gänzlich wegfällt.
Wendet der Erblasser dem Begünstigten vermächtnisweise eine Geldsumme zu, kann trotz der zweifelsfrei gegebenen Bestimmtheit der Höhe des Vermächtnisses eine Auslegung des Erblasserwillens erforderlich sein, wenn die vermachte Geldsumme zum Zeitpunkt des Erbfalls nicht mehr im Nachlass vorhanden ist oder in einer abweichenden Relation zum Restnachlass im Zeitpunkt der Testamentserrichtung steht. Die Ermittlung des Erblasserwillens kann in diesem Fall ergeben, dass der Vermächtnisnehmer nur die bei Abfassung der letztwilligen Verfügung vorhandene Geldsumme erhalten soll.
Der kinderlose Erblasser setzt seine Ehefrau zur Alleinerbin ein und verfügt zugunsten seiner Schwester ein Geldvermächtnis in Höhe von 200.000 EUR. Bei Errichtung der letztwilligen Verfügung bestand das Vermögen des Erblassers aus einer selbst genutzten Eigentumswohnung (im Wert von 200.000 EUR) und einem Kapitalvermögen von 200.000 EUR. Zum Zeitpunkt des Ablebens des Erblassers ist das Kapitalvermögen aufgebraucht, der Nachlass umfasst nur noch die Eigentumswohnung. Der Wille des Erblassers wird dahingehend auszulegen sein, dass er seiner Schwester nur das beim Erbfall tatsächlich noch vorhandene Kapitalvermögen zuwenden wollte. Er hat bei der Abfassung seines letzten Willens den seinerzeitigen Bestand seines Vermögens zugrunde gelegt und wollte seiner Schwester das gesamte Kapitalvermögen zukommen lassen. Mögliche Veränderungen des Kapitalvermögens hat er nicht bedacht. Seine als Alleinerbin eingesetzte Ehefrau müsste zur Erfüllung des Vermächtnisses die Eigentumswohnung veräußern und ginge leer aus. Dies entspricht nicht dem hypoth...