I. Unterschiedliche Subsumtion unter Art. 4 EU-ErbVO
Der Erblasser kann nur einen einzigen gewöhnlichen Aufenthalt iSv Art. 4 EU-ErbVO haben, sodass immer nur die Gerichte eines einzigen Mitgliedstaats nach Art. 4 EU-ErbVO international zuständig sind. Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist (verordnungs-)autonom und innerhalb der EU einheitlich auszulegen. Da die Gerichte aller an der EU-ErbVO teilnehmenden Mitgliedstaaten zudem an die EU-ErbVO – ggf. in der durch den EuGH präzisierten und damit einheitlichen Auslegung – gebunden sind, müssten alle mitgliedstaatlichen Gerichte bei Anwendung der Zuständigkeitsvorschriften der Artt. 4 ff EU-ErbVO theoretisch immer zum gleichen Ergebnis kommen, sodass es an und für sich weder zu positiven noch negativen Kompetenzkonflikten kommen kann.
Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts weist in Randbereichen jedoch Unschärfen und Wertungsspielräume auf. Es erscheint daher nicht ausgeschlossen, dass Gerichte in verschiedenen Mitgliedstaaten bei der Subsumtion, d. h. bei der Zuordnung des Sachverhalts unter den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts iSv Art. 4 EU-ErbVO im konkreten Fall, zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. Hierbei lassen sich zwei Fallgruppen unterscheiden:
1. Beispiel 1 – "Zwei-Staaten-Fall"
Für die Fallgruppe der "Zwei-Staaten-Fälle" ist charakteristisch, dass sich beide Gerichte zumindest insoweit einig sind, als sich der gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers iSv Art. 4 EU-ErbVO im Mitgliedstaat eines der beiden beteiligten Gerichte befindet; Uneinigkeit besteht nur darüber, in welchem von beiden. Dies zeigt sich etwa in folgendem an die viel diskutierte Fallgruppe der "Mallorca-Rentner" angelehnten
Beispiel 1:
Der verwitwete Erblasser (E) verbringt den Winter im warmen Italien und den Sommer in Deutschland, dabei hält er sich acht Monate pro Jahr in Italien und vier Monate pro Jahr in Deutschland auf. E besitzt ausschließlich die deutsche Staatsangehörigkeit; er ist Eigentümer von Immobilien in Deutschland, Italien und Frankreich. E verstirbt, ohne eine Verfügung von Todes wegen errichtet zu haben. E hinterlässt zwei Kinder A und B, die sich über die Auseinandersetzung des Nachlasses streiten. Nachdem A und B sich nicht auf einen Teilungsplan einigen konnten, erhebt A vor einem italienischen Gericht eine Auseinandersetzungsklage nach Artt. 784 ff italienische ZPO (codice di procedura civile). B erhebt daraufhin vor einem deutschen Gericht Erbteilungsklage. Sowohl das italienische als auch das deutsche Gericht stellen sich die Frage nach ihrer internationalen Zuständigkeit.
2. Beispiel 2 – "Drei-Staaten-Fall"
Hiervon zu unterscheiden ist die Fallgruppe der "Drei-Staaten-Fälle"; für diese ist charakteristisch, dass drei (oder mehr) Staaten für einen letzten gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers in Betracht kommen, wie etwa in
Beispiel 2:
Anders als in Beispiel 1 hatte Erblasser E sich in seinen letzten Lebensjahren vier Monate pro Jahr in Deutschland, vier Monate pro Jahr in Italien und vier Monate pro Jahr in Frankreich aufgehalten. Das zuerst angerufene italienische Gericht erklärt sich nach Art. 15 EU-ErbVO für unzuständig, weil es den gewöhnlichen Aufenthalt, gestützt auf die ausschließlich deutsche Staatsangehörigkeit des E, in Deutschland sieht (vgl. Erwägungsgrund 24 Satz 5). Das danach angerufene deutsche Gericht stellt sich die Frage, ob es durch die Entscheidung des italienischen Gerichts gehindert ist, den gewöhnlichen Aufenthalt des E in Frankreich verorten und sich damit ebenfalls für unzuständig zu erklären.
3. Arten von Kompetenzkonflikten
Keine Probleme bereitet die Lösung in den Beispielsfällen 1 und 2, wenn das italienische und das deutsche Gericht die Frage nach dem gewöhnlichen Aufenthalt jeweils...