1. Bindung des Zweitgerichts in "Zwei-Staaten-Fällen"
In "Zwei-Staaten-Fällen" wie in Beispiel 1 würde eine Unzuständigerklärung des Zweitgerichts dazu führen, dass sich dieses in einen Widerspruch sowohl zum Tenor als auch zu den Entscheidungsgründen des klageabweisenden Prozessurteils des Erstgerichts setzt. Dies zeigt etwa folgende Fortentwicklung des
Beispiel 1:
Das zuerst angerufene italienische Gericht erklärt sich rechtskräftig nach Art. 15 EU-ErbVO für international unzuständig mit der Begründung, dass sich der letzte gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers iSv Art. 4 EU-ErbVO in Deutschland befinde. Das deutsche Gericht ist hingegen der Ansicht, dass der letzte gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers iSv Art. 4 EU-ErbVO tatsächlich in Italien liege. Es mutmaßt, dass das italienische Gericht mit seinem klageabweisenden Prozessurteil lediglich der allgemein bekannten chronischen Arbeitsüberlastung italienischer Gerichte habe entfliehen wollen und keine rechte Lust gehabt habe, sich mit den Streithähnen A und B in der Sache herumzuplagen.
Eine Bindung des (deutschen) Zweitgerichts an die Subsumtion des (italienischen) Erstgerichts unter die Zuständigkeitsvorschrift des Art. 4 EU-ErbVO lässt sich dogmatisch über die folgenden drei Ansätze begründen:
a) Anerkennung nach Art. 39 Abs. 1 EU-ErbVO
Eine Bindung des Zweitgerichts an die Subsumtion des Erstgerichts unter Art. 4 EU-ErbVO folgt zum einen aus der Anerkennungsvorschrift des Art. 39 Abs. 1 EU-ErbVO. Die Argumente des EuGH in der Rechtssache "Gothaer Allgemeine Versicherung AG" zu Art. 33 Abs. 1 EU-GVO lassen sich auf die Parallelvorschrift Art. 39 Abs. 1 EU-ErbVO übertragen:
Die Vorschriften über die Zuständigkeit (Artt. 4 ff EU-ErbVO) und die Vorschriften über die Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen (Artt. 39 ff EU-ErbVO) in der EU-ErbVO stellen keine separaten und autonomen Regelungen dar, sondern hängen eng miteinander zusammen: Der vereinfachte Mechanismus der Anerkennung und Vollstreckung nach Art. 39 Abs. 1 EU-ErbVO, nach dem die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt werden, ohne dass es dafür eines besonderen Verfahrens bedarf, ist durch das gegenseitige Vertrauen gerechtfertigt, das die Mitgliedstaaten einander – insbesondere das Gericht des ersuchten Staats dem Gericht des Ursprungsstaats – entgegenbringen. Ein hohes Maß an gegenseitigem Vertrauen ist dabei umso mehr geboten, wenn die Gerichte der Mitgliedstaaten – wie dies bei Artt. 4 ff EU-ErbVO der Fall ist – gemeinsame Zuständigkeitsvorschriften anzuwenden haben.
Es ist wesentlicher Bestandteil dieses Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens, dass die Zuständigkeitsregeln der Artt. 4 ff EU-ErbVO, die allen Gerichten der teilnehmenden Mitgliedstaaten gemeinsam sind, von jedem dieser Gerichte mit gleicher Sachkenntnis ausgelegt und angewandt werden können. Ein später angerufenes Gericht ist daher in keinem Fall besser als das zuerst angerufene Gericht in der Lage, über die Zuständigkeit dieses zuerst angerufenen Gerichts zu befinden. Aus Art. 41 EU-ErbVO ergibt sich zudem, dass die Entscheidung des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats nach diesem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens keinesfalls in der Sache selbst nachgeprüft werden darf (Verbot der "révision au fond"). Das Vertrauen in die sachliche Richtigkeit der Entscheidung muss sich auch darauf erstrecken, dass das zuerst angerufene Gericht die harmonisierten Zuständigkeitsregeln richtig angewendet hat.
Dem Grundsatz des Vertrauens in die Richtigkeit mitgliedstaatlicher Entscheidungen würde es widersprechen, wenn man in Beispiel 1 die – von einer Hybris dem italienischen Gericht gegenüber zeugenden – Mutmaßungen des deutschen Gerichts, das italienische Gericht habe den gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers iSv Art. 4 EU-ErbVO (nur) deshalb in Deutschland verortet, um den italienischen Prozess auf diese Weise schnell und ohne großen Arbeitsaufwand zu beenden, für rechtlich relevant halten würde. Das deutsche Gericht ist gemäß Art. 39 Abs. 1 EU-ErbVO an die Subsumtion des italienischen Gerichts unter Art. 4 EU-ErbVO gebunden und muss sich daher selbst nach Art. 4 EU-ErbVO als zuständig ansehen.