a) Literatur
Jüngst ist in der Literatur wieder einmal zum Generalangriff – oder etwa letzten Gefecht? – geblasen worden. Ausgehend von einer Gesamtwürdigung im Rahmen des § 138 BGB soll angesichts der Nachrangigkeit von Sozialhilfe die Einsetzung einer Privatperson zwecks Vereitelung der Inanspruchnahme durch die Sozialhilfeträger regelmäßig sittenwidrig sein.
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Der ausdrücklicher Vorwurf, das Behindertentestament ziele darauf ab, dass für den Lebensunterhalt des Kindes die Allgemeinheit aufkommen soll, während ihm zusätzliche Annehmlichkeiten aus dem Nachlass finanziert werden, ist nicht neu. |
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Die Analyse der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist – wie zu zeigen sein wird – nur punktuell und behandelt nicht die Generallinie der maßgeblichen Gerichtsbarkeiten. |
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Die Forderung, Erblasser müssten sich klar entscheiden, ob sie das behinderte Kind enterben oder als Erben einsetzen wollen, sie dürften sich aber nicht von jeder dieser beiden Varianten einseitig die Vorteile "herauspicken", ist originell; eine rechtliche Grundlage wird dafür nicht angegeben. |
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Die Erkenntnis, Sittenwidrigkeit unterliege einem zeitlichen Wandel, ist wiederum keine neue. Dass sich aber die Vorstellungen von Solidarität und Risikoverteilung so verändert hätten, dass der ersten Grundsatzentscheidung des Senats 1990 die Grundlage entzogen wäre, erscheint vor allem angesichts der vorausschauenden Begründung des Senats wenig abgesichert. |
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Der Vergleich der Umgehung des "sozialrechtlichen Nachranggrundsatzes" mit der "Umgehung ausländischer Embargovorschriften" unter dem Blickwinkel des Schutzes lebenswichtiger Belange der Gemeinschaft verwundert. |
Es bleibt die Feststellung: Die neuerliche Analyse reduziert sich mit dem Blick auf Nachteile von Sozialhilfeträgern – sogar eingeräumtermaßen – auf den Vorwurf verweigerter Solidarität gegenüber der Gemeinschaft. Ob dem von der Rechtsordnung bereitgestellte Wege zum Vorteil für Familien mit Bedürftigen gegenüberstehen, wird hingegen nicht betrachtet. "Videatur et altera pars" bleibt so gesehen unbeachtet.
b) Sozialgerichte
Vergleichbares gilt für die Auffassung unterer Sozialgerichte, die in Bausch und Bogen alles für sittenwidrig halten, was zugunsten von Sozialleistungsbeziehern gegen die Interessen von Sozialhilfeträgern erdacht wird.
Beispielhaft hierfür steht etwa das Sozialgericht Dortmund, das Sittenwidrigkeit bei letztwilligen Verfügungen zugunsten eines unter lebenslanger Lernbehinderung leidenden Sozialleistungsbeziehers das Wort redet, weil er in seiner Gesundheit nicht dauerhaft eingeschränkt sei, um dann – eher polemisch als rechtlich – anzumerken, es könne nicht angehen, dass
Zitat
"sämtliche Annehmlichkeiten (Hobby, Reisen usw.) aus dem Nachlass finanziert werden, während für den Lebensunterhalt der Steuerzahler aufkommen muss".
Auf dieser Linie liegt auch das Sozialgericht Mannheim, als es einer ALG-II-Bezieherin ins Stammbuch schrieb, ihre Erklärung, eine Erbschaft anzunehmen, sei sittenwidrig, weil hierdurch dem Sozialhilfeträger der Zugriff auf den Pflichtteil entzogen würde. Dabei kann einem schon die Erkenntnis von Karl Kraus einfallen:
Zitat
"Wenn die Sonne der Natur niedrig steht, werfen auch Zwerge lange Schatten."
Auch bei niedrig stehender Sonne müsste einem Sozialrichter das Prinzip des "Von-Selbst-Erwerbs" im deutschen Erbrecht einfallen können. Der erklärten Annahme einer Erbschaft steht die durch bloßes Verstreichenlassen der Ausschlagungsfrist gleich, § 1943 BGB. Sittenwidrigkeit durch Unterlassen erfordert aber für die dann den eingesetzten Erben abzuverlangende Pflicht zur Ausschlagung eine gesonderte Begründung, die bislang niemandem gelungen ist. Ein Rechtsgrundsatz, Sozialgerichte könnten Bedachten vorschreiben, wann sie erben dürfen, ist bislang jedenfalls nicht bekannt.