Diese literarisch und forensisch offenbarten Tendenzen zwingen zu einem erneuten Blick auf die höchstrichterliche Judikatur als der für Rechtsberater maßgebenden Wegweiserin.
1. Bundesgerichtshof
a) Familiensenat
Der XII. (Familien-)Senat streitet – entgegen vielfältiger Annahmen – nicht grundsätzlich gegen Rechtsgestaltungen zur Verdrängung von Gläubigern.
Er missbilligt im Grundsatz lediglich Unterhaltsverzichte von Eheleuten oder Verlobten für den Fall ihrer Scheidung als sittenwidrig, wenn die Vertragschließenden dadurch bewusst eine Unterstützungsbedürftigkeit zulasten der Sozialhilfe herbeiführen, auch wenn sie eine Schädigung des Trägers der Sozialhilfe nicht beabsichtigen. Hierfür reicht allein jedoch nicht, dass ein Ehegatte im Scheidungsfall auf Sozialhilfe angewiesen bleibt, während er ohne den Unterhaltsverzicht von seinem geschiedenen Ehegatten Unterhalt hätte verlangen können. Den allgemeinen Sittenwidrigkeitsvorwurf kontert der XII. Senat so:
Zitat
Eine Pflicht von Eheschließenden zur Begünstigung des Sozialhilfeträgers für den Scheidungsfall kennt das Gesetz nicht.
Die Grenze zum Sittenverstoß wird erst überschritten, wenn Ehegatten gerade auf der Ehe beruhende Familienlasten, die sich aus der individuellen Gestaltung der ehelichen Lebensverhältnisse – insbesondere aus der Verteilung von Erwerbs- und Familienarbeit – ergeben (eheliche Nachteile), zum Nachteil der Sozialhilfe geregelt haben.
b) Liegenschaftssenat
Nach der neueren Rechtsprechung des V. (Liegenschafts-)Senats verstößt es nicht gegen die guten Sitten, ein Hausgrundstück, das im Wesentlichen das gesamte Vermögen darstellt, gegen das Versprechen von Versorgungsleistungen zu übertragen, die nur so lange geschuldet sein sollen, wie sie von dem Verpflichteten auf dem übernommenen Anwesen selbst erbracht werden können, bei einer späteren Heimunterbringung jedoch ersatzlos wegfallen sollen. Dies gilt auch dann, wenn für die Heimunterbringung die Sozialhilfe aufkommen muss und deren Träger – wegen der lebzeitigen Grundstücksübertragung – nicht im Regresswege auf das Hausgrundstück zugreifen kann. Den auch hier erhobenen Sittenwidrigkeitsvorwurf hat der V. Senat damit gekontert:
Zitat
"Den Übergebenden trifft keine Pflicht, über die Leistungen an die gesetzliche Rentenversicherung hinaus für sein Alter vorzusorgen".
Ein Abbedingen gesetzlicher Rückgriffsansprüche oder sonstiger Eingriffe in ein gesetzliches Konzept zum Nachteil des Sozialversicherungsträgers scheidet danach aus.
c) Insolvenzsenat
Eine deutliche Parallele liefert der IX. (Insolvenz-)Senat: Er hatte bereits 2009 entschieden, dass Schuldnern in der Wohlverhaltensphase des Restschuldbefreiungsverfahrens keine Obliegenheit trifft, einen in diesem Verfahrensabschnitt entstandenen Pflichtteilsanspruch – zugunsten der Massegläubiger – geltend zu machen. Zwar falle der Pflichtteilsanspruch in die Masse, die Dispositionsbefugnis über dessen Geltendmachung verbleibe aber wegen der höchstpersönlichen Natur dieser Rechte allein beim Schuldner und dürfe auch nicht durch einen mittelbaren Zwang zur Geltendmachung unterlaufen werden. Im Insolvenzverfahren ist der Schuldner gemäß § 83 Abs. 1 Satz 1 InsO ohnehin nicht gezwungen, werthaltige Erbschaften oder Vermächtnisse anzunehmen.
Im März 2011 hat dieser Senat seine Rechtsprechung dahingehend erweitert, dass auch die Ausschlagung einer Erbschaft oder der Verzicht auf ein Vermächtnis keine Verletzung der Obliegenheit nach § 295 Abs. 1 Nr. 2 InsO darstellt, letztwillig erworbenes Vermögen zur Hälfte herauszugeben. Dem – einem Sittenwidrigkeitsvorwurf vergleichbaren – Vorwurf einer Gesetzesumgehung begegnet der Senat so:
Zitat
"Die dadurch für den Schuldner bestehende Möglichkeit, den Halbteilungsgrundsatz zu umgehen, indem er das Vermächtnis erst nach Ablauf der Wohlverhaltensperiode annimmt, muss in Kauf genommen werden. Macht der Schuldner den Pflichtteil erst nach diesem Zeitpunkt geltend, tritt diese Folge ebenfalls ein."