Es gibt keinen Besteuerungstatbestand, der besagt, dass Einkommensteuer anfällt, wenn die Veräußerung eines Gegenstandes zum Zweck der Bewertung fingiert wird. Daher kann dadurch keine Einkommensteuer entstehen (§ 38 AO).
Da die Einkommensteuer erst entsteht, wenn der Erbe nach dem Erbfall stille Reserven realisiert hat, kann die Realisierung nicht auf den davor liegenden Stichtag zurückbezogen werden. Dieser Vorgang ist nicht wertaufhellend, sondern wertbegründend. Das Nachlassverzeichnis auf den Stichtag ist eine Vermögensaufstellung, in der Verbindlichkeiten nicht nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten angesetzt werden. Aus diesem Grund können darin nur die am Stichtag bestehenden Verbindlichkeiten ausgewiesen werden. Eine Steuer, die erst nach dem Stichtag anfällt, kann daher nicht aufgenommen werden.
Der Vollständigkeit halber soll auf weitere Schwächen der These, die künftige Einkommensteuer sei aufgrund der Veräußerungsfiktion nach den Verhältnissen am Stichtag zu berechnen und abzuziehen, hingewiesen werden.
Bei formaler Betrachtung muss man sagen, dass die stillen Reserven, die im Erbfall bestehen, niemals besteuert werden. Denn, wie wir gesehen haben, werden nur die im Zeitpunkt der Realisierung vorhandenen stillen Reserven besteuert. Somit kann man nur in dem Sinne von einer latenten Einkommensteuer auf die im Erbfall vorhandenen stillen Reserven sprechen, als sie im Zeitpunkt der Realisierung noch vorhanden sind und einen Teil der bei der Veräußerung realisierten stillen Reserven bilden.
Veräußert also in dem Beispielsfall der Erbe einige Zeit nach dem Erbfall die Aktien zu einem Kurs von 200 EUR pro Stück, kann man durchaus sagen, dass er nunmehr die im Erbfall vorhandenen stillen Reserven von 150 EUR pro Stück realisiert. Aber wenn der Kurs bis dahin auf 100 EUR pro Stück oder gar unter die Erwerbskosten des Erblassers von 50 EUR pro Stück gefallen ist, sind die im Erbfall vorhandenen stillen Reserven teilweise oder ganz weggefallen und die latente Einkommensteuer hat sich reduziert oder in nichts aufgelöst. Und verkauft der Erbe erst, nachdem der Kurs sich von 40 EUR auf 180 EUR erholt hat, realisiert er stille Reserven, die in seiner Hand entstanden sind. Denn die Veränderungen des Werts der Nachlassgegenstände nach dem Erbfall betreffen allein ihn. Deshalb kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass eine Einkommensteuer, die durch die Veräußerung eines Nachlassgegenstands anfällt, auf stillen Reserven beruht, die im Erbfall vorhanden waren. Ob ein wertmäßiger Zusammenhang besteht, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab, vornehmlich von dem zeitlichen Abstand zwischen Erbfall und Realisierung und den Wertschwankungen der Nachlassgegenstände. Diese Volatilität ist bei börsennotierten Wertpapieren sicherlich größer als bei einem bebauten Grundstück in guter Innenstadtlage. Aber sie besteht immer, nur in unterschiedlichem Ausmaß.
Außerdem kann die latente Einkommensteuer auf stille Reserven nicht mit ihrem Nominalwert berücksichtigt werden. Da die Steuer erst künftig entsteht und fällig wird und den Erben erst dann belastet, kann sich nur ihr Barwert auswirken. Er ist durch Abzinsung des Nominalbetrags auf den Erbfall zu ermitteln. Zinst man eine Verbindlichkeit mit dem Zinssatz des Bewertungsgesetzes von 5,5 % ab, mindert sich ihr Wert nach rund fünf Jahren um ein Viertel und nach rund 13 Jahren um die Hälfte. Aber da niemand mit der erforderlichen Gewissheit sagen kann, wie hoch die stillen Reserven im Zeitpunkt der Realisierung sind und wie hoch sie besteuert werden, lässt sich die künftige Steuer nicht berechnen. Außerdem lässt sich ihre Fälligkeit nicht feststellen, sodass der Abzinsungszeitraum unbekannt bleibt. Daher lässt sich der Barwert nicht schätzen, sondern nur raten. Allein wenn der Nachlassgegenstand zeitnah nach dem Erbfall veräußert wurde, kennt man die Einkommensteuer und kann sie abzinsen.
Zudem muss berücksichtigt werden, dass stille Reserven bisweilen nie realisiert werden, beispielsweise dann, wenn sich ein steuerverstrickter Nachlassgegenstand schon seit Generationen in Familienbesitz befindet, oder der Erbe einen Nachlassgegenstand nicht ohne weiteres veräußern kann, selbst wenn er wollte, wie den Anteil an einer Familiengesellschaft. Außerdem unterliegt die Realisierung stiller Reserven in bestimmten Fällen nur der Einkommensteuer, wenn sie innerhalb einer bestimmten Frist erfolgt, so bei Grundstücken im steuerlichen Privatvermögen (§§ 22 Nr. 22, 23 EStG); dann kann man davon ausgehen, dass der Erbe ein Nachlassgrundstück erst veräußert, wenn eine noch laufende Veräußerungsfrist abgelaufen ist. Und nicht zuletzt muss bedacht werden, dass es durchaus hin und wieder Maßnahmen gibt, mit deren Hilfe ein gut beratener Erbe einen Veräußerungsgewinn, der normalerweise versteuert werden müsste, auf legale Weise mindern oder vermeiden kann.