Leitsatz
1. Im Deliktsrecht steht ein Schadenersatzanspruch grundsätzlich nur der unmittelbar geschädigten Person zu (vgl. BGH, Urt. v. 19.6.1952, III ZR 295/51). Für einen Anspruch von Erben auf Ersatz von durch den Erbfall angefallenen Kosten wie Kosten des Erbscheinsverfahrens oder einer Nachlasspflegschaft fehlt es an einer Anspruchsgrundlage.
2. Einem Kind, das sowohl zur Zeit des schädigenden Ereignisses als auch beim Schadeneintritt noch nicht geboren war, steht kein Anspruch auf Hinterbliebenengeld nach § 844 Abs. 3 BGB zu.
3. Zur Begründung eines persönlichen Näheverhältnisses zum Vater – im Sinn einer gelebten sozialen Beziehung – reicht die allmähliche Entwicklung der Sinnesorgane eines Embryos im Mutterleib vor der Geburt nicht aus.
4. § 844 Abs. 2 S. 2 BGB stellt eine nicht analogiefähige Sondervorschrift dar.
OLG München, Urt. v. 5.8.2021 – 24 U 5354/20
1 Tatbestand
I.
Die am 5.4.2018 geborene Klägerin ist die leibliche Tochter des Herrn T. R. (im Folgenden: der Getötete), der am … 2017 bei einem von einem Versicherungsnehmer der Beklagten verursachten Verkehrsunfall tödlich verletzt wurde. Mit der Klage macht sie einen Anspruch auf Hinterbliebenengeld sowie den Ersatz der Kosten einer Nachlasspflegschaft geltend, die ihr und ihren beiden Miterben entstanden sind.
Die Beklagte hat ihre Haftung zu 100 % für die Folgen des Unfalls, der von ihrem – inzwischen ebenfalls verstorbenen – Versicherungsnehmer bei einer Fahrt als Geisterfahrer auf der Autobahn A8 im Bereich von L. verursacht wurde, bereits durch Schreiben vom 13.6.2018 dem Grunde nach anerkannt. Sie leistet Ersatz für den Unterhaltsschaden der Klägerin gemäß § 844 Abs. 2 BGB und hat sowohl an die Mutter der Klägerin, die mit dem Getöteten zusammengelebt hatte, als auch an die beiden Halbbrüder der Klägerin Hinterbliebenengeld geleistet. Die mit Schriftsatz des Klägervertreters vom 20.3.2019 geforderte Zahlung von Hinterbliebenengeld für die zum Unfallzeitpunkt noch nicht geborene Klägerin lehnte die Beklagte ab.
Das Amtsgericht Aichach hatte Rechtsanwältin J. S. als Nachlasspflegerin bestellt und für sie mit Beschl. v. 19.3.2019 eine Vergütung aus dem Nachlass von 20.941,62 EUR festgesetzt.
Das Landgericht Memmingen hat der Klage auf Erstattung dieser Vergütung an die aus der Klägerin und ihren beiden Halbbrüdern bestehende Erbengemeinschaft stattgegeben, da die Anordnung der Nachlasspflegschaft die unmittelbare Folge des Todesfalls und erforderlich gewesen sei, weil die Erbengemeinschaft aus zwei minderjährigen Kindern und der beim Todesfall noch nicht geborenen Klägerin bestehe.
Ein Anspruch auf Zahlung von Hinterbliebenengeld stehe der Klägerin dagegen nicht zu, da der Nasciturus vom Schutzbereich des § 844 Abs. 3 BGB nicht umfasst sei. Eine tatsächlich gelebte besonders enge Verbindung zum Getöteten könne im Unfallzeitpunkt nicht bestanden haben, da die Klägerin beim Tod ihres Vaters noch nicht geboren gewesen sei. Dass § 844 Abs. 2 S. 2 BGB hinsichtlich des Unterhaltsschadens eine Anspruchsberechtigung des gezeugten, aber noch nicht geborenen Kindes vorsehe, spreche nicht dafür, dass eine Anspruchsberechtigung des Nasciturus auch beim Hinterbliebenengeld anzunehmen sei. § 844 Abs. 3 BGB enthalte gerade keine dem § 844 Abs. 2 S 2 BGB entsprechende Regelung.
Gegen dieses Urteil haben beide Parteien Berufung eingelegt.
Die Klägerin beantragt:
Unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Memmingen vom 13.8.2020, Az.: 35 O 1590/19, wird die Beklagte verurteilt, an die Klägerin einen weiteren Betrag in Höhe von 20.000,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 9.5.2019 sowie weiterer vorgerichtlicher Anwaltskosten in Höhe von brutto 2.872,18 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.
Sie ist der Ansicht, aufgrund des Leitbildcharakters des § 844 Abs. 2 S. 2 BGB stehe ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld auch dem ungeborenen, aber bereits gezeugten Kind zu. Es genieße bei einer Schädigung seines Körpers im embryonalen Stadium auch den Schutz des § 823 Abs. 1 BGB (vgl. BGH NJW 1972, 1126). Eine Anspruchsberechtigung entspreche der mit § 844 Abs. 3 BGB angestrebten Einzelfallgerechtigkeit. Der Klägerin komme die Vermutung nach § 844 Abs. 3 S. 2 BGB zugute, da sie bereits als Nasciturus Kind des Getöteten gewesen sei. Die Entscheidung des Landgerichts verletze die Menschenwürde der Klägerin. Art. 1 Abs. 1 GG lasse es nicht zu, Demenzkranke, Menschen mit schwerer geistiger Behinderung, Kleinkinder, Säuglinge und den Nasciturus vom Anspruch auf Hinterbliebenengeld auszuschließen, weil sie nicht in der Lage seien, seelisches Leid zu empfinden. Außerdem stünden dem Nasciturus nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Schadensersatzansprüche bei einem Schockschaden zu (BGH NJW 1985, 1390). Die Klägerin müsse ohne Vater aufwachsen und sei dadurch erheblich in der Entwicklung ihrer Persönlichkeit beeinträchtigt.
Demgegenüber meint die Beklagte, § 844 Abs. 2 ...