Teil I: Vor- & Nacherbschaftslösung
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In Deutschland lebten laut einer Erhebung des Statistischen Bundesamts im Jahr 2019 mehr als 7,9 Millionen Menschen mit sog. Schwerbehinderungen. Das entspricht umgerechnet knapp 10 % der bundesdeutschen Bevölkerung. Bezieht man die Gruppe der leichter behinderten Menschen mit ein, liegt der Anteil sogar noch höher. Angesichts dieser Zahlen zeigt sich die praktische Relevanz sog. behindertengerechter Nachfolgekonstruktionen sehr deutlich: Während die Sicherung des Vermögens für nachfolgende Generationen für viele Menschen ein Leitmotiv darstellt, gewinnt die Thematik in Familien mit behinderten Angehörigen eine umso größere Bedeutung, als dass das Vermögen nicht nur innerfamiliär vor potenziellen Streitigkeiten der Hinterbliebenen oder familienextern vor dem Fiskus geschützt werden muss. Hinzukommt in diesen Fällen stets auch die Sorge der späteren Erblasser vor einem Zugriff des Sozialleistungsträgers, der, wenn er gelingt, nicht nur den Erhalt des Vermögens, sondern auch die Absicherung eines besonders schutzbedürftigen Angehörigen gefährdet.
A. Einführung
Die Gestaltung von behindertengerechten Testamenten gilt unter juristischen Experten als eine der Königsdisziplinen im Erbrecht. Der hohe Anspruch der Materie ergibt sich zum einen aus einer dynamischen Rechtsprechung, die insbesondere mit Blick auf Fragen der Sittenwidrigkeit der Gestaltung und Möglichkeiten Dritter, insbesondere des Sozialleistungsträgers, die Konstruktion anzugreifen oder Ansprüche auf sich überzuleiten, vom Berater stets im Blick behalten werden muss. Zum anderen darf die Gestaltung nicht rein erbrechtlich betrachtet werden. Sie besetzt vielmehr eine Schnittstelle zwischen unterschiedlichen juristischen Disziplinen. Betroffen sind dabei neben erbrechtlichen, betreuungsrechtlichen und steuerrechtlichen Problemkreisen vor allem Fragestellungen des Sozialrechts.
Dieser Aufsatz beschäftigt sich in zwei Teilen mit den unterschiedlichen Gestaltungsinstrumenten bei der Umsetzung von behindertengerechten Testamenten. Dabei werden mehrere Lösungsmodelle zivilrechtlich und sozialrechtlich beleuchtet. Abschließend entwickelt die Verfasserin Lösungsansätze und Musterformulierungen in Fällen mit erbschaftsteuerlichem Bezug.
B. Grundlagen
I. Erbrechtliche Grundlagen
Bevor auf die speziellen testamentarischen Konstruktionen zur Gestaltung eines Behindertentestaments eingegangen wird, sollen die Grundlagen der gesetzlichen Erbfolge und des Pflichtteilsrechts dargestellt werden. Sie bilden die Basis der juristischen Überlegungen bei der Ausgestaltung von letztwilligen Verfügungen und insbesondere bei der Planung von behindertengerechten Verfügungen von Todes wegen. Hier gilt es insbesondere eine Überleitung von Erbauseinandersetzungs- und Pflichtteilsansprüchen auf den Sozialleistungsträger zu unterbinden.
Die gesetzliche Erbfolge ist geregelt in den §§ 1924–1936 BGB. Sie ist geprägt vom sog. Parentelsystem. Danach werden die erbberechtigten Verwandten verschiedenen Ordnungen zugeteilt. Gesetzliche Erben erster Ordnung sind gem. § 1924 Abs. 1 BGB die Abkömmlinge des Erblassers. Erben zweiter Ordnung sind gem. § 1925 Abs. 1 BGB die Eltern des Erblassers und deren Abkömmlinge. Zu den Erben dritter Ordnung rechnen nach § 1926 Abs. 1 BGB die Großeltern des Erblassers und deren Abkömmlinge. Die weitere Erbfolge innerhalb der Ordnungen erfolgt nach Stämmen, wobei ein näherer Abkömmling einen eigenen Abkömmling nach dem Repräsentationsprinzip von der Erbfolge ausschließt und gleich nahe Erben nach Köpfen erben. Ab der vierten Ordnung gilt das Gradualsystem, das auf den Grad der Verwandtschaft zum Erblasser abstellt. Neben dem Verwandtenerbrecht steht das in den §§ 1931–1934 BGB i.V.m. § 1371 BGB geregelte Ehegattenerbrecht.
Den Kreis der pflichtteilsberechtigten Personen regelt § 2303 BGB. Pflichtteilsberechtigt sind nach § 2303 Abs. 1 S. 1 BGB die Abkömmlinge des Erblassers und daneben nach § 2303 Abs. 2 S. 1 BGB dessen Ehegatte und die Eltern, letztere allerdings nur dann, wenn sie nicht durch einen Abkömmling verdrängt werden, § 2309 BGB. Die Höhe des Pflichtteilsanspruchs liegt gem. § 2303 Abs. 1 S. 2 BGB in der Hälfte des Wertes des gesetzlichen Erbteils.
Die vorstehenden Ausführungen rechnen zum kleinen Einmaleins des Erbrechts. Sie mögen banal klingen für einen versierten Experten. Allerdings darf eine exakte Berechnung der Erb- und Pflichtteilsquoten gerade bei der Gestaltung von behindertengerechten Testamenten niemals außer Acht gelassen werden, gilt es doch, den Erwerb von Todes wegen des behinderten Familienangehörigen behaltensfest im Sinne von mindestens in Höhe der verfassungsrechtlich garantierten Mindestteilhabe am Nachlass – dem Pflichtteil – auszugestalten. Gelingt dies nicht, scheitert die komplette testamentarische Konstruktion und eine Überleitung von Ansprüchen auf Dritte, insbesondere auf den Sozialleistungsträger, droht.