I. Deutsche Abkommenspolitik auf dem Prüfstand
Prof. Dr. Lüdicke begrüßte es, dass nach der deutschen Abkommenspraxis die Doppelbesteuerung im Regelfall durch die Freistellungsmethode vermieden werde. Nicht nur, dass die Freistellungsmethode für relativ hoch besteuernde Staaten wie Deutschland ein geeignetes Mittel sei, ihrer Wirtschaft im Ausland zu Wettbewerbsfähigkeit zu verhelfen, sie erweise sich gegenüber der kompliziert ausgestalteten Anrechnungsmethode auch aus Praktikabilitätserwägungen als die bessere Methode zur Vermeidung der Doppelbesteuerung. Die Freistellung von Betriebsstätten und Schachteldividenden werde in Deutschland traditionell durch Aktivitätsvorbehalte bedingt. Auch wenn diese Praxis prinzipiell für richtig gehalten werde, solle Deutschland von diesen Aktivitätsklauseln im Verhältnis zu normal besteuernden Industriestaaten und Staaten der EU Abstand nehmen. Zum einen hätten Aktivitätsklauseln unangemessenen Lenkungscharakter, indem sie Investitionen über Tochtergesellschaften aufgrund des § 8 b KStG privilegierten, zum anderen stünden sie der Idee des Binnenmarktes, gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle Mitgliedsstaaten zu schaffen, entgegen.
Für Deutschland mit exportorientierter Ausrichtung sollte die Reduzierung jeglicher Quellenbesteuerung im Vordergrund stehen. Dies gelte gleichermaßen für den Null-Steuersatz für Schachteldividenden wie für die Reduzierung der Quellensteuersätze für Zinsen und Lizenzgebühren. Mit jeder Quellenbesteuerung gehe die Gefahr einer internationalen Doppelbesteuerung oder Übermaßbesteuerung einher, da sie üblicherweise als Bruttobesteuerung von den Einnahmen und nicht als Nettogewinnbesteuerung ausgestaltet sei.
Überarbeitungsbedürftig sei die im nationalen Steuerrecht in § 34 c EStG geregelte Anrechnungsmethode. Deutschland sollte die Möglichkeit eines Anrechnungsvortrages einführen. Gerade in Verlustsituationen eines Unternehmens könnten wegen der sog. "per year limitation" ausländische Steuern nicht angerechnet werden. Da der Verlustvortrag aber durch die ausländischen Steuern gemindert sei, führe dies über einen Zeitraum von mehreren Jahren zu einer internationalen Doppelbesteuerung.
Kritisch seien die durch das SEStEG eingeführten Entstrickungstatbestände zu beurteilen. Diese könnten unangenehme Rechtsfolgen für Steuerpflichtige zur Konsequenz haben, wenn Deutschland mit einem ausländischen Staat erstmalig ein Doppelbesteuerungsabkommen abschließe. So könne die in der deutschen Abkommenspraxis für ausländische Betriebsstätten vorgesehene Freistellungsmethode – und zwar ohne Zutun und Einfluss des diese Betriebsstätte unterhaltenden Unternehmens – nach dem Wortlaut von § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG und § 12 Abs. 1 KStG zur Entstrickung und damit zu einer sofortigen Steuerbelastung führen.
II. Deutsche Abkommenspolitik quo vadis?
Herr Wichmann erläuterte, dass Ausgangsbasis deutscher Abkommenspolitik die Musterabkommen der OECD seien, im Verhältnis zu den Entwicklungsländern das der Vereinten Nationen. Berücksichtigt werden müsse, dass die Autorität dieser Abkommen als Muster zunehmend schwinde. Tendenziell könne eine zunehmende Divergenz der Musterabkommen beobachtet werden. Innerhalb des Musters der OECD sei eine Zunahme von Bemerkungen und Vorbehalten zum Kommentar, von Vorbehalten gegenüber dem Musterabkommen und vor allem eine Fülle von Alternativvorschriften festzustellen, die zu einer Reduktion der Empfehlungswirkung des Musters führten.
Hinsichtlich der Methodenfrage gelte das Primat der Freistellungsmethode, nachgelagert fände die Anrechnungsmethode Anwendung. Die Anwendung der Freistellungsmethode sei ausschließlich dann gerechtfertigt, wenn die Gefahr einer Doppelbesteuerung bestehe. Wenn allerdings im anderen Vertragsstaat eine Besteuerung entweder gar nicht oder in zu niedrigem Umfang stattfinde, bestehe kein Bedürfnis für eine Vermeidung der Doppelbesteuerung. Grundsätzlich existiere aus deutscher Rechtsperspektive ein umfangreiches Sicherungssystem, das eine abkommensrechtliche Freistellung von Einkünften versage, wenn die Einkünfte im Ausland nicht oder nicht ausreichend besteuert würden. Umgesetzt werde diese Zielbestimmung insbesondere durch Subject-to-tax-Klauseln und Switch-over-Klauseln oder durch unilaterale Regelungen in Gestalt von Treaty Overrides. Im Wesentlichen erlaubten diese Maßnahmen unter bestimmten Voraussetzungen die Anwendung der Anrechnungsmethode anstelle der Freistellungsmethode. Hinzu kämen Aktivitätsklauseln, die einer als missbräuchlich qualifizierten Inanspruchnahme der Freistellungsverpflichtung entgegenwirkten und hierfür die Freistellung unter dem Vorbehalt einer echten wirtschaftlichen Tätigkeit im Quellenstaat gewährten. Hinsichtlich der Switch-over-Klauseln sei eine Tendenz der Flexibilisierung dahingehend zu erkennen, von den Voraussetzungen eines Qualifikationskonflikts oder der Missbrauchsvermeidung Abstand zu nehmen, um die freie Anwendung einer Umschaltklausel zu ermöglichen. Schwierig sei es hierbei, festzustellen, unter welchen Voraussetzungen von einer Nichtbesteuerung und wann nur von einer...