Art. 4 EU-ErbVO als die zentrale Zuständigkeitsvorschrift der EU-ErbVO regelt die Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen "Gerichte" für "Entscheidungen" in "Erbsachen". Zu untersuchen ist daher, ob diese drei Voraussetzungen in Bezug auf das Verfahren zur Erteilung eines deutschen Erbscheins erfüllt sind:
I. Gericht (Art. 3 Abs. 2 Satz 1 EU-ErbVO)
Das gemäß §§ 2353 BGB, 352 Abs. 1 Satz 1 FamFG funktionell zuständige Nachlassgericht lässt sich ohne weiteres als "Gericht" im Sinne der Legaldefinition des Art. 3 Abs. 2 Satz 1 EU-ErbVO ansehen. Dass es sich beim Erbscheinsverfahren nach deutschem Prozessrecht (§§ 342 Abs. 1 Nr. 6 FamFG, 23a Abs. 2 Nr. 2 GVG) um ein Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit handelt, schließt ausweislich Erwägungsgrund 59 eine europarechtliche Qualifikation als Gericht iSv Art. 3 Abs. 2 EU-ErbVO nicht aus.
II. Erbsache
Die EU-ErbVO verwendet den Begriff "Erbsache" zwar an vielen Stellen im Text der Verordnung, in den Erwägungsgründen und sogar in der amtlichen Überschrift, definiert ihn überraschenderweise aber nicht – insbesondere nicht in den Begriffsbestimmungen des Art. 3 Abs. 1 EU-ErbVO. Hierbei handelt es sich aber wohl um ein Übersetzungsproblem: Während in der deutschen Sprachfassung der EU-ErbVO in Art. 3 Abs. 1 lit. a EU-ErbVO der Begriff "Rechtsnachfolge von Todes wegen" und in Art. 4 EU-ErbVO der Begriff "Erbsache" verwendet wird, besteht in anderen Sprachfassungen der EU-ErbVO, etwa in der englischen und in der französischen Sprachfassung, kein Unterschied; in beiden Vorschriften wird hier einheitlich der Begriff "succession" verwendet. Vergleicht man die deutsche Sprachfassung des Art. 4 EU-ErbVO mit diesen anderen Sprachfassungen, so ist der Begriff "in Erbsachen" als Synonym für den Begriff "über die Rechtsnachfolge von Todes wegen" zu verstehen.
Nach der Definition des Art. 3 Abs. 1 lit. a EU-ErbVO umfasst der Begriff der Rechtsnachfolge von Todes wegen jede Form des Übergangs von Vermögenswerten, Rechten und Pflichten von Todes wegen, insbesondere im Wege der gesetzlichen Erbfolge. Der Rechtsnachfolge von Todes wegen unterliegen dabei gemäß Art. 23 Abs. 2 lit. b EU-ErbVO insbesondere die Berufung der Berechtigten und die Bestimmung ihrer jeweiligen Anteile. Das Erbscheinsverfahren dient der Ermittlung der Erben und ihrer Erbquoten; es stellt somit unproblematisch eine "Erbsache" iSv Art. 4 EU-ErbVO dar.
III. Entscheidung (Art. 3 Abs. 1 lit. g EU-ErbVO)
Weniger klar erscheint jedoch, ob sich der Beschluss über die Erteilung eines deutschen Erbscheins nach §§ 2353 ff BGB, 352 Abs. 1 FamFG als "Entscheidung" iSv Art. 4 EU-ErbVO ansehen lässt. Der Begriff der Entscheidung ist zwar in Art. 3 Abs. 1 lit. g EU-ErbVO legaldefiniert. Danach ist eine Entscheidung jede von einem Gericht eines Mitgliedstaats in einer Erbsache erlassene Entscheidung ungeachtet ihrer Bezeichnung, einschließlich des Kostenfestsetzungsbeschlusses eines Gerichtsbediensteten. Diese Vorschrift erscheint freilich wenig zielführend, da der zu definierende Begriff der "Entscheidung" bei den Begriffen, mit denen er definiert werden soll, erneut verwendet wird.